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10.3 Motivation und Zwang

Abb. 22: Die drei Bedingungen der Motivation (Klicken zum Vergrößern).

So wie Denken und Emotionalität (vgl. Kap. 10.2) ist auch die Motivation unter den Bedingungen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz nicht mehr selbstevident, sondern problematisch. Zur Rekapitulation seien die drei Bedingungen der Motivation (inkl. Abb. 22) hier noch einmal wiedergegeben:

  1. Der Beitrag zur gesellschaftlichen Vorsorge und die eigene Existenzsicherung hängen tatsächlich zusammen,
  2. der Zusammenhang ist gesellschaftlich denkbar,
  3. der Zusammenhang wird vom Individuum gedacht.

Die Motivationsbedingungen können nun unabhängig voneinander gegeben sein oder fehlen. Tatsächliche Zusammenhänge können unsichtbar bleiben, nicht bestehende Zusammenhänge können ideologisch vorgetäuscht sein, das Individuum kann einem Schein aufsitzen, statt Erweiterung kann real eine Einschränkung der Lebensqualität mit der Handlung verbunden sein etc.

Durch das Auseinandertreten von gesellschaftlichen Zielkonstellationen und individuellen Handlungen, also mit

»prinzipiellen Möglichkeitsbeziehung der Menschen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen [liegt] kein einfaches Determinationsverhältnis vor, durch welches das Individuum beim Bestehen der genannten Motivationsvoraussetzungen alternativlos motiviert handeln muß. Ich kann mich auch zu meiner eigenen Zusammenhangseinsicht wiederum ›bewußt verhalten‹, und dabei zu der Entscheidung kommen, für ›mich persönlich‹ das Ziel nicht zu übernehmen, obwohl seine Realisierung in meinem verallgemeinerten Interesse ist, also quasi vor mir selbst und/oder anderen ›Ausnahmebedingungen‹ zu reklamieren« (322)

Der Charakter von Handlungszielen als gesellschaftlichen Zielen im objektiven Handlungszusammenhang ist damit nicht zurückgenommen:

»Auch wenn ich die ›Freiheit‹ habe, ein gesellschaftliches Ziel individuell zu übernehmen oder zurückzuweisen, so bleibt das übernommene wie zurückgewiesene Ziel immer noch ein Handlungsziel, das als solches seinen Inhalt und Stellenwert aus dem gesellschaftlichen Lebensgewinnungs-Zusammenhang erhält, und man hat, ob man dies will und sieht oder nicht, mit der Übernahme wie mit der Zurückweisung des Handlungsziels eine in verallgemeinerter Weise für andere relevante Entscheidung getroffen und damit (wie marginal auch immer) seine eigenen Lebensmöglichkeiten verändert«

Umgekehrt gilt nun auch, dass bei Nichtvorliegen der Motivationsbedingungen es trotzdem zu Handlungen kommen kann. Aufgrund von gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen kann das Individuum

»gesellschaftliche Ziele … übernehmen, die im herrschenden Partialinteresse und somit nicht im allgemeinen Interesse an der Verfügungserweiterung und Erhöhung der Lebensqualität der Individuen (deren ›Fall‹ ich bin) liegen, mithin nicht ›motiviert‹, sondern unter ›Zwang‹ … handeln«.

Der früher geschilderte Motivationswiderspruch zwischen zukünftiger Lebensqualität und den Anstrengungen und Risiken auf dem Weg dorthin verändert sich damit. Unter Zwang können die Anstrengungen/Risiken nun auf sich genommen werden, obwohl diese emotional nicht gedeckt sind, also keine verbesserte Lebensqualität versprechen. Was bei motiviertem Handeln ein Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung zugunsten besserer Möglichkeiten in der Zukunft ist, verselbstständigt sich bei erzwungenem Handeln als Selbstdisziplinierung und Druckausübung gegen sich selbst. Das wird als Willentlichkeit bezeichnet.

Die Willentlichkeit — sich selbst aus Not zu Handlungen zu zwingen — wird in Kap. 12.5 unter dem Begriff der Selbstfeindschaft ausführlicher diskkutiert.

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