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11.3 Doppelte Möglichkeit

Was in den bisherigen Ausführungen nur implizit mit thematisiert wurde, soll nun noch einmal explizit herausgehoben werden: Die individuellen Handlungsmöglichkeiten lassen sich einteilen in solche Handlungen, die die vorausgesetzten Bedingungen hinnehmen, und solche, die darauf abzielen, die Bedingungen des Handeln zu verändern. Von hier ausgehend bestimmt sich der spezische Begriff menschlicher Freiheit. Wegen seiner Bedeutung sei diese Passage aus der GdP vollständig zitiert:

»›Frei‹ ist ein Individuum in dem Grade, wie es an der vorsorgenden gesellschaftlichen Verfügung über seine Lebensbedingungen teilhat, damit seine Bedürfnisse in ›menschlicher‹ Qualität befriedigen kann. Dies bedeutet, dass man von subjektiver Freiheit nur soweit reden kann, wie das Individuum nicht nur unter jeweils bestehenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen handlungsfähig ist, sondern auch über die Handlungsfähigkeitsbedingungen selbst verfügt, also diese zur Überwindung darin gegebener Handlungseinschränkungen erweitern kann: Nur auf diese Weise ist ja die Handlungsfähigkeit ›unter‹ Bedingungen nicht durch die Unverfügbarkeit der Bedingungen selbst wieder eingeschränkt, letztlich zurückgenommen.« (354)

Unter Bedingungen zu handeln oder die Bedingungen des Handelns zu verändern wird doppelte Möglichkeit genannt. Die Freiheit als doppelte Möglichkeit ist eine Potenz, dass heißt, entscheidend ist, dass »auch bei bloßem Handeln unter bestehenden Bedingungen die Alternative der Verfügungserweiterung durch Änderung von Bedingungen gegeben ist« (ebd.), und nicht, ob die zweite Möglichkeit der Verfügungserweiterung auch tatsächlich ergriffen wird.

Die subjektive Freiheit ist historisch bestimmt, sie hängt von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab, die den jeweiligen objektiven Handlungszusammenhang setzen. Dazu gehören sowohl Einschränkungen der Verfügungsmöglichkeiten aufgrund von Herrschaftsverhältnissen, aber auch der Zusammenschluss zur »zur Erweiterung kollektiver Selbstbestimmung in überindividuell gesellschaftlicher Subjektivität« (ebd.).

Das widersprüchliche Verhältnis von Einschränkungen und Erweiterungen der Verfügungsmöglichkeiten kann niemals in Richtung der totalen Einschränkung auf das bloße Handeln unter Bedingungen bei Eliminierung der zweiten Möglichkeit verschoben werden. Die Freiheit des bewussten Verhaltens zu den einschränkenden Bedingungen durch — wie auch immer minimale — Erweiterung der Verfügungsmöglichkeiten ist immer gegeben:

»Wie sehr die Art und der Grad der verbleibenden Möglichkeit der Verfügungserweiterung über die Bedingtheit der Begründungen selbst wieder ›bedingt‹ sein mag: Die Tatsache der Möglichkeit der Verfügungserweiterung ist ›unbedingt‹, sie ist eine genuine (aus der ›gesellschaftlichen Natur‹ in gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit entspringende) Spezifik der ›menschlichen‹ Existenz und nur mit dieser auslöschbar.« (355)

Diese analytische Bestimmung darf jedoch nicht als normative Anforderung missinterpretiert werden. Es kann sowohl gute Gründe geben, die einschränkenden Bedingungen hinzunehmen und unter diesen zu handeln, wie danach zu streben, die individuelle Verfügung über die Bedingungen des Handelns zu erweitern. Die Gründe sind dabei immer erster Person, und keine der Möglichkeiten ist apriori privilegiert. Auch extreme, menschenunwürdige Einschränkungen wie etwa Folter können die zweite Alternative nicht eliminieren. Genauso wenig ist jedoch festgelegt, dass ›bedingt‹ durch die Folter die zweite Alternative ergriffen werden muss.

Die Nicht-Eliminierbarkeit menschlicher Subjektivität und Freiheit begründet auch den besonderen Begriff der Verantwortung. Der Mensch hat,

»unter wie einschränkenden, unterdrückenden, bedrohenden Bedingungen er immer leben muss, indem er dazu ›frei‹ ist, in seinen Handlungen die gegebenen Möglichkeiten der Verfügungserweiterung zu realisieren, immer auch die ›freie‹ Alternative …, auf diese ›zweite Möglichkeit‹ zu verzichten und sich in den gegebenen Handlungsräumen einzurichten, [bleibt] somit immer als ›Subjekt‹ für seine Handlungen verantwortlich« (ebd.)

Auch Verantwortlichkeit darf nicht unter der Hand zu einer Norm verkehrt werden, sondern Verantwortung fasst die Möglichkeit, mir selbst und anderen die Gründe verständlich zu machen, also auf die Frage zu antworten, warum ich so oder anders gehandelt habe.

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