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12.7 Restriktive und verallgemeinerbare Emotionalität

Nach dem kognitiven Aspekt restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit im letzten Kapitel — dem Denken unterschieden in Deuten und Begreifen — geht es nun um den emotionalen Aspekt, der hier nur aus Darstellungsgründen getrennt behandelt wird. Für die Emotionalität verwendet Holzkamp keine eigenen Unterscheidungsbegriffe, sondern spricht von restriktiver bzw. verallgemeinerbarer Emotionalität.

Restriktive Emotionalität

Die restriktive Emotionalität gewinnt im Zusammenhang mit dem deutenden Denken ihre besondere Qualität und Dynamik. Um das deutende Denken konsistent zu halten, müssen alle überschreitenden Hinweise verdrängt werden (vgl. dazu Kap. 12.6). Gleichzeitig spiegelt die emotionale Befindlichkeit die subjektive Wertung der individuellen Lebenslage tatsächlich wider (vgl. dazu Kap. 10.2). Es kommt so zu einem »essentiellen Widerspruch zwischen kognitiver und emotionaler Weltbegegnung und Realitätsbeziehung« (403). Daraus ergeben sich für die restriktive Emotionalität folgende mögliche Erscheinungsformen:

  • »[D]auerndes emotionales Unbehagen und Ungenügen« (ebd.), da die Emotionen mehr Hinweise über den subjektiven Möglichkeitsraum geben, als im deutenden Denken aufgehoben sind.
  • »Dissoziation der Emotionen von den realen kognizierten Lebensbedingungen«, da der »reale Zusammenhang zwischen emotionalem Ungenügen und den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen« (404) verdrängt wird.
  • »Verinnerlichung‹ der Emotionalität als von den realen Lebensbedingungen isolierter, bloß ›subjektiver‹ Zustand«, damit »scheinhaft essentielle ›Dunkelheit‹ und Unklarheit«, die oft als »Qualität besonderer ›Tiefe‹ des personalen Erlebens subjektiv mystifiziert wird« (ebd.)
  • »›Entemotionalisierung‹, d.h. Zurückgenommenheit und Unengagiertheit des Handelns« (ebd.), da die Handlungsimpulse nicht erkannt werden.
  • »Dichotomisierungen zwischen ›Gefühl‹ und ›Verstand‹«, da im »scheinhaften Ausschließungsverhältnis … das ›Fühlen‹ nur auf Kosten des ›Denkens‹ möglich ist und umgekehrt« (405)
  • »genuin defensiver Charakter … (der) ›Gefühle‹, da ihre scheinhafte emotionale Sonderqualität ja tatsächlich aus der Leugnung und Verdrängung der Handlungsimpulse, die einen in Konflikt mit den herrschenden Instanzen bringen könnten, beruht« (ebd).
  • »›Angst‹ als permanente Hintergrundsqualität restriktiver Emotionalität« durch die »hintergründige Bedrohung der eigenen Handlungsfähigkeit durch die Anerkennung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse« resultierend in Verdrängung, Verinnerlichung und Psychisierung sowie »den Personalisierungstendenzen der ›deutenden‹ Welt und Selbstbegegnung« (406)
  • »[Q]uasi ›unbewußte‹ Angst«, die »als solche unfaßbar und unüberwindbar« ist, da die »permanente emotionale Infragestellung der subjektiven Funktionalität der restriktiven Handlungsfähigkeit, der gemäß es einem ja eigentlich ›gut‹ gehen müsste, selbst wieder verdrängt und unbewußt gehalten werden muss« (ebd.)
  • Die unbewußte Angst kann Quelle von »psychischen ›Störungen‹, ›neurotischen Symptomen‹ etc.« sein, die »– indem sie sich aus ihrer ›sekundären Funktionalität‹ der Angstreduzierung bei fortdauernder Verleugnung der Angst und ihrer Ursachen, also ohne Infragestellung des ›restriktiven‹ Arrangements mit den Herrschenden, speisen – gerade aus ihrer genuinen Vergeblichkeit ihre Unerreichbarkeit und Permanenz« (ebd.) erhalten.
  • Die »hintergründige Angstdurchsetztheit« und Ausgeliefertheit macht die restriktive Emotionalität »widersprüchlich, gebrochen, abgestanden« und »unstet und schwankend« (406f)
  • Gerade mit der Fixierung »auf das ›Unmittelbare‹ (ist) menschliche Daseinserfüllung und Bedürfnisbefriedigung, auch unmittelbar sinnlich-vitaler Art, nicht erreichbar« (407)
  • »Die direkte Bezogenheit auf die eigene Emotionalität, die Vorstellung, man könnte seine emotionalen Möglichkeiten unter Ausklammerung der Wirklichkeitserkenntnis und Realisierung der daraus sich ergebenden Handlungsnotwendigkeiten entwickeln, ist nichts anderes als ideologisch abgesicherter Selbstbetrug« (ebd.)

Die emotionale Seite kompensatorischer Instrumentalbeziehungen wurde bereits in Kap. 12.4 beschrieben und muss hier nicht weiter ausgeführt werden.

Verallgemeinerbare Emotionalität

Verallgemeinerbare Emotionalität ist wirkliche Emotionalität und damit Erkenntnisquelle. Holzkamp stellt klar, dass »wirkliche emotionale Erfülltheit und Spontaneität nur in Überwindung der restriktiven Handlungsfähigkeit im Deutungsrahmen in Richtung auf ›begreifende‹ Realisierung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit erlangt werden kann« (407). Dabei geht es um:

  • »Durchdringung des Scheins der bloßen ›Innerlichkeit‹ der Emotionalität durch in ›bewußtem‹ Verhalten herauszuhebende wirkliche Lebensverhältnisse und Unterdrückungsbedingungen« (410)
  • »Wiedergewinnung der eigenen Emotionalität als Erkenntnisquelle und Erfassung der in den emotionalen Wertungen liegenden subjektiven Handlungsnotwendigkeiten in Richtung auf die gemeinsame Verfügungserweiterung« (ebd.)
  • »Gerichtetheit auf die Schaffung von Bedingungen ›menschlicher‹ Lebenserfüllung/Bedürfnisbefriedigung, gleichzeitig Gewinnung von Entschiedenheit, Fülle und Angstfreiheit gegenwärtiger Emotionalität« (ebd.)

Wie auch beim Denken lassen sich diese Ausführungen nur als Richtungsbestimmungen verstehen, die ein kategoriales Fundament besitzen, aber selbst keine Eigenschaften o.ä. fixieren. Insbesondere für die Emotionalität im Rahmen verallgemeinerter Handlungsfähigkeit muss »jedes Stück verallgemeinerten, nichtinstrumentellen emotionalen Engagements den nie total zurückzudrängenden Tendenzen zur emotionalen ›Verinnerlichung‹ mit all ihrer angstbestimmten Defensivität, emotionalen Selbst- und Fremdinstrumentalisierung etc. ›abgerungen‹ werden« (ebd.) und zwar immer wieder. Auch hier ist die verallgemeinerbare Emotionalität kein Zustand, den man erreichen könne, sondern permanente Auseinandersetzung mit widrigen und gegenläufigen Nahelegungen im real existierenden Kapitalismus.

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