Vorher lesen:

Artikel drucken

12.8 Motivation und innerer Zwang

Abb. 22: Die drei Bedingungen der Motivation (Klicken zum Vergrößern).

Den Abschluss dieses Gesamtkapitels bildet die Darstellung der Motivation im Rahmen restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit. Er fällt auf, dass Holzkamp hierfür keine eigenen Begriffe schafft (wie beim Denken mit Deuten und Begreifen), aber auch nicht von restriktiver und verallgemeinerbarer Motivation analog zur Emotionalität spricht (zumindest nicht in den Überschriften).

Beide Begriffe — Motivation und Zwang — sind im Grunde schon eingeführt: Motivation als emotionale Wertung zukünftiger Situationen (vgl. schon Kap. 4.3 als Aspekt autarken Lernens) und Zwang als genuiner Aspekt der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz (vgl. Kap. 10.3). Im gegebenen Kontext der Analyse unter kapitalistischen Verhältnissen bezogen auf die jeweilige Lebenslage und Position geht es darum darzustellen, wie es im Rahmen der restriktiven Handlungsfähigkeit zur Verinnerlichung des Zwangs kommt.

Motivation

Zunächst seien noch einmal die drei Bedingungen der Motivation in Erinnerung gerufen, wie sie in Abb. 22 dargestellt wurden. Bei gesicherter Handlungsfähigkeit hat das Individuum »keinen ›Grund, die jeweils gegebene oder fehlende ›Motivation‹ zur Zielerreichung reflexiv auf ihre Adäquatheit hin zu thematisieren und zu problematisieren« (411), da hier die drei Motivationsbedingungen gleichsam automatisch gegeben sind. Das Individuum kann den Zusammenhang von gesellschaftlichen Zielkonstellationen und der eigenen vorsorgenden Existenzsicherung einschließlich ihrer gesellschaftlichen Denkbarkeit erfassen, muss es aber nicht. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist hinzuzufügen, dass dies nicht bedeutet, dass damit alle Handlungen mit Schwung und Energie ausgeführt werden, sondern gerade das ist nicht notwendig, weil die eigene Existenz und menschliche Bedürfnisbefriedigung auch dann real gesichert ist, wenn ich aktuell nichts tue. Wann ich was mit welcher Energie tue, hängt auch unter Bedingungen einer grundsätzlich gesicherten Handlungsfähigkeit von meiner phänomenalen Befindlichkeit ab, in die vielfältige Aspekte (etwa biografische u.a.) eingehen. Ich kann mich dieser Befindlichkeit also grundsätzlich hingeben und muss mich nicht selbst zwingen.

Innerer Zwang

Eine solche Notwendigkeit des Selbstzwangs aufgrund von Fremdzwang gibt es hingegen unter Bedingungen der Unabgesichertheit, etwa unter kapitalistischen Bedingungen, die hier das Thema sind:

»Es ist nämlich nunmehr auch die Möglichkeit in Rechnung zu stellen, daß mit gegebenen Handlungsanforderungen zwar den herrschenden Interessen, aber damit nicht auch den allgemeinen/individuellen Interessen gedient ist, sodaß sie nicht motiviert, sondern nur unter ›Zwang‹ verfolgbar sind.« (ebd.)

Im Rahmen restriktiver Handlungsfähigkeit ist es nun funktional, also begründet, Beschränkungen als unveränderbar hinzunehmen und alle Verweise auf die immer gegebene zweite Alternative auszublenden:

»Die Motivationsproblematik muss hier also vom Individuum so wahrnehmbar sein, als ob sie lediglich innerhalb seiner unmittelbaren Lebenspraxis entsteht und auch hier von ihm bloß individuell bzw. interaktiv lösbar ist.« (412)

Da dies real aber nicht der Fall ist, kommt es immer wieder zu Rückschlägen, Misserfolgen und Niederlagen, die jedoch nicht auf ihre reale Verankerung in den objektiven Zwängen der kapitalistischen Gesellschaft zurückgeführt werden, sondern

»vielmehr werden die genannten Rückschläge und Misserfolge ›psychisiert‹ und ›personalisiert‹, der eigenen Unfähigkeit, der Böswilligkeit anderer, dem persönlichen ›Pech‹ bzw. ›Glück‹ der anderen etc. angelastet.« (ebd.)

Um also auch hier den in deutendem Denken und restriktiver Emotionalität gegebenen Handlungsrahmen konsistent zu halten, müssen all jene Aspekte der Realität ausgeklammert werden, die auf »die Selbstfeindschaft des um unmittelbarer Vorteile willen geschlossenen Arrangements mit den Herrschenden« hinweisen:

»Die äußeren Zwänge, die immer wieder die subjektive Funktionalität/Begründetheit des Akzeptierens der Handlungsrestriktionen gefährden, müssen vom Individuum so verinnerlicht werden, daß ihr Ursprung in den Herrschaftsverhältnissen, mit denen man sich arrangieren will, ein für alle mal unsichtbar bleibt, d.h. daß die äußeren Zwänge in ihrer ›Verinnerlichung‹ … für das Subjekt von motiviert verfolgbaren Anforderungen nicht mehr unterscheidbar sein dürften. Der so als Moment des ›Unbewußten sich herausbildende innere Zwang ist mithin eine ›motivationsförmige‹ subjektive Mystifizierung der Tatsache der Unterdrückung durch die herrschenden Verhältnisse, durch deren Akzeptieren man an der eigenen Unterdrückung aktiv beteiligt ist.« (413)

Die notwendigen Aktivitäten zur Ausblendung ›gefährlicher‹ Emotionen und Abwehr kritischer Gedanken wurden in den vorausgegangen zwei Kapiteln ausführlich beschrieben. Die Funktion der erforderlichen präventiven »›unbewußten‹ Regulationen meiner kognitiv-emotionalen Prozesse« illustriert Holzkamp mit einem Bild:

»Ein Fisch im Glas, der durch einen eingebauten Mechanismus nur Schwimmbewegungen macht, durch welche er nicht an die Wände seines Gefängnisses stößt, kann sich innerhalb des Glases in der grenzenlosen Freiheit des Ozeans wähnen.« (ebd.)

Verallgemeinerte Motivation

Die verallgemeinerte Motivation (die nur drei mal im Text auch so genannt wird) als Überschreitung des verinnerlichten Zwangs besteht darin, die gesellschaftlichen Zielkonstellationen so zu verändern, dass eine allgemeine und individuelle Vorsorge in Deckung kommen, »also (in letzter Instanz) den gemeinsamen Kampf gegen gesellschaftliche Verhältnisse, die aufgrund herrschender antagonistischer Interessen der Verfügung aller über ihre eigenen Angelegenheiten entgegenstehen« (414).

Der Motivationswiderspruch zwischen Chancen und Risiken spitzt sich dabei u.U. zu, wenn »die antagonistischen gesellschaftlichen Kräfte (und ihre Abkömmlinge) … der Erweiterung der Selbstbestimmung Widerstand entgegensetzen« (ebd.). Dem kann wiederum durch überindividuellen Zusammenschluss begegnet werden, »womit eine Gegenmacht gegen die herrschende Macht entsteht, durch welche die Ausgeliefertheit des Einzelnen an die antagonistischen Kräfte reduziert ist und sich auch schon im gemeinsamen Kampf darum eine vorsorgende Verfügung über die je individuellen Lebensbedingungen, wenn auch unter permanenter Bedrohung durch die klassenbedingten Herrschaftsverhältnisse, herausbilden kann« (ebd.).

Holzkamp hält in diesem Zusammenhang (dem Aufbau von Gegenmacht) erzwungene Handlungen für »kurzfristig unvermeidbar« (ebd.), der sich aber dadurch vom Zwang der herrschaftlichen Verhältnisse unterscheidet, dass

»die Tatsache des gegenwärtigen Zwanges voll bewußt gehalten werden kann, ja geradezu das zentrale Kennzeichen der gegenwärtigen Situation darstellt, die in motiviertem Handeln zu verbessern ist, also die Ausgangsdifferenz zwischen gegenwärtiger und antizipierter emotionaler Wertung, damit die Intensität der Motivation selbst, erhöhen muß.« (415)

Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich bei den kategorialen Präzisierungen nicht um die Beschreibung unverrückbarer Wesenheiten des Menschen (Typologien, Eigenschaftsmerkmale etc.) handelt, sondern um einen analytischen Sichtöffner, mit dem die je eigene Situation in sozialer Selbstverständigung begreifbar gemacht werden kann. Wie dies geschehen kann, ist Thema der aktualempirischen Forschung, die im Kapitel 14 dargestellt wird.

Weiter geht's:

Kommentar