13.2 Vom sozialen Signallernen zur Sozialintentionalität

Der erste Entwicklungszug in der Ontogenese ist die Bedeutungsverallgemeinerung, die ihrerseits zwei Entwicklungsmomente umfasst. Nimmt man den Ausgangspunkt der Entwicklung hinzu, so sind im folgenden drei Schritte darzustellen:

  • Ausgangspunkt: Probieren/Beobachten und soziales Signallernen
  • Intentionalität: Sachintentionalität und Sozialintentionalität *
  • Verallgemeinerung: Verallgemeinertes-Gemachtsein-Zu und Kooperativität (Kap. 13.3)

Ausgangspunkt ist die ›angeborene‹ und sich entwickelnde individuelle Lernfähigkeit. Dies sind einerseits »subsidiäre Lernprozesse, durch welche die existenzsichernden und sexuellen Primärbedeutungen/-bedürfnisse des Kindes modifiziert werden« (430, vgl. Kap. 6.2 [1]), die aber für die Individualentwicklung nicht bestimmend sind. Es ist andererseits das Probieren/Beobachten aus dem Bereich autark gelernter Mittelbedeutungen (vgl. Kap. 6.1 [2]), das in die »individuell geplante Aktivitätsregulation als ›operative‹ Untereinheit des Handelns« (431) übergeht und die weitere Entwicklung bestimmt.

Der treibende Entwicklungswiderspruch ist die Diskrepanz zwischen den realen kooperativen Möglichkeiten, die in den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen liegen, und der realabstraktiv reduzierten naturhaft-individuellen Umwelt des Kindes. Das Kind kann seinen Bedürfnissen nach erhöhter »Bedingungsverfügung in Richtung auf Angstreduzierung und Erhöhung der Lebensqualität« (436) nur durch Reduzierung der Diskrepanz mittels eigener ›Entwicklung‹ entsprechen.

Ontogenetisch gewendet ist die »Herausbildung des Probierens/Beobachtens … weitgehend identisch mit der des ›Greifens‹ und ›Manipulierens‹ mit Gegenständen zur operativen Aneignung ihrer Orientierungsbedeutungen in Richtung auf erweiterte sachliche Bedingungsverfügung« (439). Da das Kind noch auf die Pflege und Unterstützung der Erwachsenen angewiesen ist, muss es die Versuche der Bedingungsverfügung auf die Beziehung zu den Erwachsenen ausweiten, um je nach Bedürfnislage Sorgeaktivitäten herbeizuführen:

»Das Probieren/Beobachten führt hier also nicht nur zu gelernten ›sachlichen‹, sondern auch zu ›gelernten sozialen Orientierungsbedeutungen‹... Die Folge von gelernten Orientierungsbedeutungen, die auf die Umsetzung bzw. Befriedigung von Primärbedeutungen/-bedürfnissen an deren Ende verweisen, ist hier also quasi um soziale Bedeutungseinheiten erweitert. Mithin handelt es sich auf diesem Niveau noch um das geschilderte individuell-antizipatorische Signallernen am ›Erfolg‹, aufgrund dessen das Kind durch Gesten, Laute, Schreien etc. die Pflege- und Unterstützungsaktivitäten der Erwachsenen provoziert bzw. für deren Aufrechterhaltung sorgt.« (440)

Die gelernten sozialen Signale des Kindes sind nun auch für den Erwachsenen Hinweise zur Verbesserung der Sorgeaktivitäten. Doch auf der Stufe des sozialen Signallernens ist die intentionale Beziehungsqualität noch nicht erreicht. Wie kommt es zum Übergang vom bloßen Erfassen sachlicher und sozialer Gegebenheiten als Resultat sozialen Signallernens zum intentionalen Herstellen von sachlich-sozialen Zusammenhängen?

Die Erwachsenen reagieren zwar auf die Signale des Kindes, jedoch nicht wie dieses auf der Ebene des bloßen Signallernens, sondern sie organisieren ihre Sorgeaktivitäten nach eigenen Absichten und Plänen. Das Kind kann mit seinen gelernten Sozialsignalen die intentionale Ebene der Erwachsenen jedoch nicht erreichen:

»Die Handlungen der Erwachsenen, ihr Kommen und Gehen, ihre Zu- oder Abwendung, der Inhalt und der Modus ihrer Verrichtungen mit dem Kind sind, da deren Intentionalität noch ›unverstanden‹ bleibt, vom Kind weder hinreichend zu durchschauen noch zu beeinflussen. Sie bilden so gegenüber der für das Kind subjektiv notwendigen sozialen Ausweitung der operativen Bedingungsverfügung ein widerständiges Moment: Die Mittel zur Überwindung der Widerständigkeit sind beim Kind nicht verfügbar, und so muß jede Erfahrung des Verfügungsverlustes über die Pflege- und Unterstützungsaktivitäten der Erwachsenen zu angstbestimmter Verunsicherung führen« (443)

Da die Intentionen der Erwachsenen — zunächst unverstanden — faktisch erlebt werden und die Erwachsenen dem Kind umkehrt Intentionen unterstellen, wo anfangs noch gar keine sein können, wird es für das Kind schrittweise möglich, das Signallernen auch auf die intentionalen Signale auszudehnen. Ist die Ebene der interpersonalen Intentionalität einmal erreicht, kann das Kind dann auch sachbezogene Intentionen ausdrücken — lange vor der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation.

Damit ist die Sozialintentionalität als erstes Moment im Entwicklungszug der Bedeutungsverallgemeinerung entwickelt. Das zweite Moment der Kooperativität und Erfassung der Allgemeinheit der Bedeutungen wird im nächsten Kapitel dargestellt.


* Die Herausbildung der Intentionalität ist entwicklungslogische Voraussetzung für den Dominanzwechsel zur Bedeutungsverallgemeinerung und wird daher in der GdP als »ontogenetischer Vorlauf« (429) bzw. »entwicklungslogische Zwischensequenz« (437) getrennt diskutiert.


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[2] Kap. 6.1: http://grundlegung.de/artikel/6-1-von-gelernten-orientierungs-zu-mittelbedeutungen/