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13.4 Vorformen restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit

Die Entfaltung der Potenzen zur individuellen Vergesellschaftung in der Ontogenese vollzieht sich von Geburt an unter den Bedingungen des real existierenden Kapitalismus. Die historisch veränderlichen Herrschaftsverhältnisse führen in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand des Kindes zu »mehr oder weniger unspezifischen Entwicklungsbehinderungen« (458). Daraus ergibt sich die Frage,

»auf welchem Prozeßniveau der Ontogenese in welcher Weise für das Kind mehr oder weniger unspezifische Vorformen der Alternative restriktiver oder verallgemeinerter Bedrohtheitsüberwindung, also Verfügungssicherung durch Sich-Einrichten in der Abhängigkeit oder Erweiterung des Verfügungsrahmens, bestehen, in welcher Weise also einerseits die individuelle Reproduktion von Unterdrückungszusammenhängen im herrschenden Interesse während der Ontogenese durchgesetzt und ›eingeübt‹ wird, und in welcher Weise andererseits die Möglichkeit des subjektiven Widerstands dagegen sich in der Ontogenese ausprägen und spezifizieren kann.« (459)

In der folgenden Betrachtung sind die bereits in Kapitel 13.2 vorgestellten drei Niveaus der Entwicklung im Entwicklungszug der Bedeutungsverallgemeinerung zu diskutieren:

  • Probieren/Beobachten und soziales Signallernen
  • Sachintentionalität und Sozialintentionalität
  • Kooperativität und Bedeutungsverallgemeinerung (Kap. 13.5)

Auf dem Niveau des Probierens/Beobachtens und sozialen Signallernens sind es vor allem Einschränkungen des Unterstützungsrahmens, die Lernaktivitäten des Kindes behindern. Holzkamp beschreibt beispielhaft solche Lernbehinderungen als »Leere, Anregungsarmut, Reglementiertheit« in Bezug auf die »sachbezogenen Aktivitäten« (461) und »Inkonsistenz, Vernachlässigung der Befriedigung primärer Bedürfnisse einschließlich der Unterdrückung sexueller Impulse des Kindes« resultierend in »vitale[r] Verunsicherung« (ebd.). Diese haben »für das Kind noch den Charakter von blinden und zufälligen Naturereignissen« (ebd.).

Die Möglichkeiten des Kindes, den Bedrohungen der Verfügung zu begegnen, bestehen in der Optimierung der ausgesendeten Sozialsignale zur Herbeiführung von Sorgeaktivitäten durch Erwachsene. Vorformen der restriktiven Handlungsfähigkeit bestehen dabei im selektiven Unterlassen von solchen Signalen, die Beeinträchtigungen zur Folge haben, damit zur schrittweisen »›Anpassung‹ durch ›Arrangement‹ mit den Herrschenden« (462) in Gestalt der Erwachsenen. Die Alternative der Nicht-Anpassung als erster Vorläufer verallgemeinerter Handlungsfähigkeit liegen in passivem oder aktivem Widerstand gegen die »›Maßnahmen‹ der Erwachsenen« (ebd.), um sich nicht völlig auszuliefern.

Die Erwachsenen haben nun ihrerseits die Möglichkeit, auf kindliche Anpassungs- oder Widerstandsaktivitäten mit Versuchen verstärkter Beeinflussung und Unterdrückung bis hin zu rigider Dressur zu reagieren oder die kindliche Bedürftigkeit und ihre Ausdrucksformen anzunehmen und den Unterstützungsrahmen sicher zu stellen. Die sich ergebenden Dynamiken in der Kind-Erwachsenen-Koordination können ggf. im Einzelnen nur aktualempirisch aufgeklärt werden.

Auf dem Niveau der Sozialintentionalität nimmt das Kind die Aktivitäten der Erwachsenen als absichtsvoll wahr und entwickelt eigene Absichten. Da das Kind nun einerseits zwischen Sachen und Personen unterscheiden kann, ihm andererseits die hinter der unmittelbaren Interaktion stehenden Handlungszusammenhänge, die das Handeln der Erwachsenen begründen, nicht einsichtig sind, kann es Beeinträchtigungen nur kurzschlüssig auf sich und die Absicht des Erwachsenen zurückführen: »Sie tun mir das an, weil sie mich nicht mögen« (463).

Gleichzeitig stehen dem Kind nun neue Möglichkeiten zur Verfügung, eigene Absichten zur Überwindung von Bedrohungen einzusetzen. Es kann gezielt Absichten oder aggressive Impulse verbergen oder nicht vorhandene Absichten vorgeben zu haben, um die Geneigtheit der Erwachsenen zu erreichen. Dies wird befördert durch Erwachsene, die dem Kind Absichten oder Pläne unterstellen, wo zunächst noch keine sind (vgl. Kap. 13.2). Erfolgreiche absichtsvolle kindliche Manipulationen der Erwachsenen sind

»zugleich die ›dynamische‹ Grundlage für die Entstehung charakteristischer ›Schuldgefühle‹, nicht nur deswegen, weil das Kind den ›lieben‹ Erwachsenen gegenüber, die es am Leben erhalten, gleichzeitig ›Aggressionen‹ hat, sondern speziell deswegen, weil es deren Zuwendung hier nur durch emotionales ›Falschspiel‹ erschlichen, also gar nicht ›verdient‹ hat.« (465)

Die sozialintentionale Manipulation und Instrumentalisierung der Erwachsenen, von denen das Kind gleichzeitig abhängig ist und sich u.U. in seiner Bedingungsverfügung bedroht sieht, kann eine Dynamik hervorbringen, die »eigenen aggressiven Impulse samt der Tatsache ihres Verbergens zur Vermeidung des ›Ertapptwerdens‹ und entsprechender Existenzgefährdung« zu verdrängen und die »Beeinträchtigung/Verletzung durch die Erwachsenen, in welcher die eigenen Aggressionen ›begründet‹ sind, selbst zu verleugnen und so in ›Identifikation‹ mit fremden Zwängen die eigenen elementaren Lebensinteressen zu verkennen und zu negieren« (ebd.), einschließlich der »im Arrangement mit den Herrschenden liegende Selbstfeindschaftals ›dynamischer‹ Ursprung des ›Unbewussten« (466).

Holzkamp vermutet in den beschriebenen »›Vorwegnahmen‹ von Zügen restriktiver Handlungsfähigkeit … ein notwendiges Stadium ontogenetischer Entwicklung innerhalb der bürgerlichen Klassenwirklichkeit«, so dass »die Herausbildung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit durch Verfügungserweiterung im Zusammenschluss mit anderen quasi immer erst gegen konträre Tendenzen aus der eigenen frühkindlichen Individualgeschichte durchgesetzt werden« (467) kann.

Die Widersprüche im Zuge des Überschreitens der Sozialintentionalität in Richtung auf Kooperativität und Bedeutungsverallgemeinerung werden im nächsten Kapitel diskutiert.

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