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13.7 Kindheit als Vergangenheit und Gegenwart des Erwachsenen

Die Ontogenese ist für den Erwachsenen nicht bloß vergangene Geschichte, sondern gegenwärtiger — präsenter oder verdrängter — Teil des eigenen Lebens. Ihre Analyse umfasst somit drei Momente:

  • die Kind-Erwachsenen-Koordination
  • die Kindheitsentwicklung darin als Realbiographie
  • je meine Kindheit, wie ich sie als meine Phänomenalbiographie erfahre

Unterschiede und Zusammenhang dieser drei Momente müssen sich in der aktualempirischen Forschung konkretisieren. Dabei ist insbesondere das Spannungsverhältnis von realer biographischer Entwicklung und je meinem Blick in meiner situationalen Befindlichkeit darauf relevant, sofern dies zur »personalen Einschränkung von mir jetzt gegebenen Möglichkeitsräumen, insbesondere der Begünstigung der Alternative ›restriktiver Handlungsfähigkeit‹ … durch mein Verhaftetsein in Erfahrungsweisen, Beziehungen, Verfügungs- und Bewältigungsformen auf unentwickelten ontogenetischen Prozeßniveaus« (499) (also vor der Unmittelbarkeitsüberschreitung) führt.

Wir haben es hier mit zwei Formen der Unmittelbarkeitsverhaftetheit zu tun: die entwicklungslogisch unumgehbare kindliche Beschränkung auf die unmittelbare Kind-Erwachsenen-Koordination (vgl. Kap. 13.6) und die unmittelbarkeitsfixierte deutende Weltsicht im Modus der restriktiven Handlungsfähigkeit des Erwachsenen als Verzicht auf die Alternative verallgemeinerter Handlungsfähigkeit (vgl. Kap. 12.6). In der »Kindheits-Fixierung« sieht es für das Individuum so aus,

»als ob die kindlichen Erfahrungs- und Bewältigungsweisen vor dem Entwicklungszug der Unmittelbarkeitsüberschreitung auch heute noch, für den Erwachsenen, die einzig mögliche, daher unhinterfragbar ›natürliche‹ Form der Welt und Selbstbegegnung wären« (501).

Nach Holzkamp fließen also hier »die Selbstverständlichkeiten des kindlichen Lebens in der Unmittelbarkeit mit dem dem Erwachsenen naheliegenden bzw. nahegelegten Sich-Einrichten in der Unmittelbarkeit phänomenal« (ebd.) zusammen:

»Der Umstand, daß der Erwachsene mit seiner ›restriktiven‹ Unmittelbarkeitsverhaftetheit nicht ›als Kind‹, sondern lediglich in gewissem Sinne ›wie ein Kind‹ handelt, wäre so nicht reflektierbar und die restriktiv-deutende Welt und Selbstsicht gewönne so an Glätte und Festigkeit selbstverständlicher Funktionalität.« (ebd.)

Die Alternative der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit ist demnach stets nur »gegen den Strom des allseits (für die fremdbestimmte Erwachsenenexistenz in der bürgerlichen Gesellschaft) Naheliegenden« und damit auch »gegen den Strom der aus der eigenen Kindheit als unreflektiert universeller Erfahrungshintergrund überkommenen Selbstverständlichkeiten« (502) durchzusetzen.

Problematische Situationen wären demnach für den Erwachsenen immer auch danach zu befragen, inwieweit sich in ihnen kindliche Bewältigungsformen von Konflikten reaktualisieren:

»Zur Überwindung der ›Selbstfeindschaft‹ restriktiver Handlungsfähigkeit muß ich also auch zu meiner eigenen Kindheit ein bewußtes ›Verhältnis‹ gewinnen, d.h. ich muß meine frühkindlichen Weisen der Erfahrung/Bewältigung auf die vergangenen Prämissen ihrer subjektiven Begründetheit/Funktionalität hin durchschauen können, damit realisieren, daß ich jetzt kein Kind mehr bin und, soweit ich versuche, meine Probleme immer noch in ›kindlicher‹ Weise zu bewältigen, damit einer objektiven und subjektiven Verbesserung meiner Lebenslage selbst im Wege stehe.« (506)

Dies bedeute, wie Holzkamp betont, jedoch keinen Abschied von der eigenen Kindheit und auch keine Abwendung von den Eltern, sondern eröffne die Möglichkeit, die Formen regressiver Konfliktbewältigung mit den »Eltern als Prügelknaben für die Rechtfertigung meiner eigenen ›restriktiven‹, defensiv-kleinlichen Lebensführung« (507) zu überwinden und damit potenziell »mit ihnen zusammen Möglichkeitsräume der Erweiterung gemeinsamer Lebenserfüllung, damit der Verbesserung unserer Beziehungen, auszumachen und zu realisieren suchen« (ebd.). Dies gelte auch in Bezug auf die Kinder, mit denen ich aktuell zusammenlebe. In ihnen kann ich die

»subjektive Notwendigkeit der Erweiterung ihrer eigenen Verfügungsmöglichkeiten als Aspekt der allgemeinen Notwendigkeit von Lebensverhältnissen, unter denen die Betroffenen Herr ihrer eigenen Angelegenheiten sind, erkennen, akzeptieren und fördern, muß also die Kinder weder nach dem Bild meiner eigenen defensiven ›Kindlichkeit‹ klein und abhängig halten, noch deren Entwicklung als immer weitergehendes Zurückstecken von ›überhöhten‹ Lebensansprüchen bis hin zum ›Realismus‹ meiner eigenen mickrigen Erwachsenenexistenz verfälschen (und dies womöglich noch, wie die Psychoanalyse, wissenschaftlich stilisieren).« (ebd.)

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