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5.2 Zweck-Mittel-Umkehrung

Abb. 15: Funktionswechsel der Zweck-Mittel-Umkehrung als erster qualitativer Sprung im dritten Fünfschritt (Klicken für alle Fünfschritte)

Wir haben nun im dritten Fünfschritt den ersten qualitativen Sprung auf dem Weg zur Menschwerdung erreicht (Abb. 15). Zur Erinnerung: Die soziale Motivation, also Antizipationen, die sich auf die Befriedigung primärer Bedarfe nach erfolgreichen kollektiven Aktivitäten richten, steuern auch die Mittelherrichtung und -benutzung in der Sozialkoordination. Trotz der möglichen Funktion innerhalb einer kollektiven Aktivitätssequenz, handelt sich dennoch nur um individuelle und nicht um soziale Mittel. Die Bedeutung der Mittel ist noch nicht dauerhaft, allgemein und für andere verfügbar, sondern »verschwindet« nach Zweckerreichung wieder im »Hintergrund« der Umwelt: Die Orientierungsbedeutung des Mittels wird deaktualisiert.

Mit der Zweck-Mittel-Umkehrung ändert sich dies qualitativ. Das Mittel wird nun nicht erst für den aktuellen Bedarfsfall, dass es in einer (individuellen oder kollektiven) Aktivitätssequenz gebraucht wird, geschaffen, sondern wird unabhängig für Fall hergerichtet, dass es einmal gebraucht werden könnte. Das Mittel wird

»zunächst quasi als ›Selbstzweck‹ bereitgestellt und aufgehoben, behält also seine Orientierungsbedeutung als ›Mittel‹ in generalisierter Weise auch dann, wenn … (es) gerade nicht gebraucht wird.« (173)

Das Mittel ist nun gleichsam vor dem Zweck da und besitzt eine dauerhafte und verallgemeinerte soziale Bedeutung:

»Die hergestellten Werkzeuge werden … nicht zum individuellen Gebrauch aufgehoben, ihre verallgemeinerte Benutzbarkeit ist vielmehr eine soziale Verallgemeinerung: Sie stehen den Mitgliedern des Sozialverbandes ›für den Fall‹, daß sie gebraucht werden, zur Verfügung.« (174)

Der individuell Werkzeuge erfindende und nutzende Hominini ist also eine Fiktion und vermutlich einer ontologisierenden Rückprojektion des bürgerlichen Menschenbildes eines isolierten Individuums (»Warenmonade«) geschuldet. Vielmehr sind

»der kognitive Aspekt der Schaffung von Mitteln für verallgemeinerte Zwecke und der soziale Aspekt der kollektiven Vorsorgezwei Seiten des gleichen Entwicklungsprozesses: Die geschilderte Sachintentionalität und Sozialintentionalität sind damit auf neuem Niveau integriert« (174)

Mit der Zweck-Mittel-Umkehrung beginnt ein völlig neuer Prozess der Lebensgewinnung. Die Lebensbedingungen werden nun nicht mehr nur vorgefunden, sondern in kollektiver Vorsorge geschaffen.

Bevor im nächsten Kapitel 6 dieser qualitativ neue Prozess der Herstellung der Lebensbedingungen dargestellt wird, ist zunächst ein methodischer Einschub erforderlich, in dem erklärt wird, warum die weitere Darstellung in dieser Einführung von der GdP abweichen wird.

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4 Kommentare

  • […] der sozialen Ad-Hoc-Herstellung von Werkzeugen entwickelt sich nach der Zweck-Mittel-Umkehrung (Kap. 5.2) zur planmäßigen Herstellung von Arbeitsmitteln. Die autark gelernten […]

  • […] (Kap. 5.1), also noch vor dem Funktionswechsel der Zweck-Mittel-Umkehrung (Kap. 5.2), beziehen sich die Antizipationen nicht nur auf individuelle, sondern auf über mehrere […]

  • Marcel sagt:

    Wir haben uns gefragtm, wie genau es dazu kommt, dass die Individuen dazu übergehen, die Mittel schon zu Beginn einer sozial-koordinierten Aktion (Jäger-Treiber-Unternehmung) einzusetzen. Ist es Zufall, i.S.: selektieren sich die Individuen/Gruppen aus, die das Mittel immer eher mit in den Vorsorgeprozesse einbeziehen? Oder wird mal ein Mittel ad hoc bei der Endaktivität eingesetzt und dann sukzesssive bei den vorangehenden Teilaktivitäten schon zur Hand genommen?
    Kurzum: wie muss man sich diesen Prozess vorstellen, an dessen Ende die Verkehrung von Zweck und Mittel steht?

  • StefanMz sagt:

    Zunächst: Die kollektive Jäger-Treiber-Aktivität ist bereits auf der Entwicklungsstufe der Sozialkoordination noch vor der Zweck-Mittel-Umkehrung möglich, d.h. unter Einsatz von ad-hoc hergerichteten Mitteln. Das bedeutet, es gab den kollektiven Jagd-Prozess prinzipiell schon. Nun finde ich es nachvollziehbar, dass eine solche Gruppe, die es versteht, die Jagdmittel nach dem Erfolg nicht wegzuschmeissen, sondern aufzuheben, zu verbessern und schließlich gezielt herzustellen, einen deutlichen Überlebensvorteil besitzt.

    Wie genau sich der Prozess vollzog, kann niemand sagen, weil wir auf Funde einerseits und Beobachtungen heute lebender Tiere andererseits angewiesen sind, die immer das Problem der Interpretation und Verallgemeinerung aufwerfen. So gibt es Beobachtungen von heute lebenden Affenarten, die zum Knacken von Nüssen besonders geeignet Schlagsteine, die sie aus einem Flussbett gesammelt haben, zu passenden großen Ambosssteinen, die weiter entfernt vom Fluss liegen, tragen, um dort die Nüsse zu knacken. Dabei werden besonders geeignete Schlagsteine immer wieder verwendet, also »aufgehoben«. Das heisst, dass hier ansatzweise die Bedeutung »zum Schlagen auf diesem Amboss geeignet« überdauernd existiert.

    Ich vermute also, dass es sehr vieler kombinierter Teil-Innovationen bedurfte, die sich alle über sehr lange Zeiträume per Mutation und Selektion kumulierten, bis es zum Qualitätssprung der Zweck-Mittel-Umkehrung kam (der dann eine beschleunigte Entwicklung ermöglichte).

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