6.2 Sexuelle Bedeutungen und Bedürfnisse

Die existenzsichernden Primärbedürfnisse sind auf die Mittelbedeutungen bezogen, die die Aktivitäten zur vorsorgenden kooperativen Schaffung von Arbeitsmitteln strukturieren (vgl. Kap. 6.1 [1]). Im Unterschied dazu werden die fortpflanzungsbezogenen Primärbedürfnisse und –bedeutungen nicht in die sich allmählich herausbildende gesellschaftliche Form der Lebensgewinnung einbezogen:

»Sexuelle Aktivitäten mit dem möglichen Resultat des ›Nachwuchses‹ erfolgen ja nicht durch die für die gesellschaftliche Lebensgewinnung charakteristische Dazwischenschaltung von Arbeitsmitteln, sondern sind natürliche Aktivitäten bloß sozialer Art.« (219)

Das gleiche gelte für die Jungenaufzucht,

»…da das aufzuziehende Kind ja nicht wie ein Werkstück Gegenstand und Resultat verändernder Einwirkung durch Arbeitsmittel ist.« (219)

Die tierischen Aktivitäten und Bedeutungen vor dem Funktionswechsel konnten in die Funktionskreise der Arterhaltung (Fortpflanzung) und der Selbsterhaltung (Existenzsicherung) eingeteilt werden (vgl. Kap. 3.2 [2]). Die Aktivitäten zur Fortpflanzung richteten sich direkt — also nicht vermittelt über die Selbsterhaltung — auf die Erhaltung der tierischen Population. Die Aktivitäten zur individuellen Existenzsicherung richten sich nach der Zweck-Mittel-Umkehrung jedoch auf die Beteiligung an der kooperativen Schaffung verallgemeinerter Lebensbedingungen, durch die die Existenz des einzelnen Individuums vorsorgend erhalten wird. Da die Aktivitäten zur Fortpflanzung mit individueller Erhaltung nichts zu tun haben, sind sie auch nicht in den Prozess der zunehmenden gesellschaftlichen Art und Weise, die Lebensbedingungen vorsorgend herzustellen, einbezogen. Gleichwohl sind sie individuell durch subsidiäres Lernen modifizierbar und dadurch gesellschaftlich formbar.

Frühere biotische Festlegungen verlieren damit ihre Funktion. So wird die Jungenaufzucht immer mehr zur Aufgabe der Sozietät und ist somit nicht mehr mit der Zeugung und der biotischen Familie verknüpft. Die Sexualität ist nicht mehr an eine zyklisch auftretende Bereitschaft und die körperliche Ausbildung von Sexualmerkmalen gebunden, sondern der Mensch ist das ganze Jahr gleichermaßen zu sexueller Aktivität in der Lage. Fazit:

»Aus dieser Charakteristik, einerseits eine elementare sinnlich-vitale Lebensäußerung des Menschen, andererseits aber gesellschaftlich formbar zu sein, ergibt sich die besondere Weise der unmittelbaren Erfahrungsintensität wie der ›Formierbarkeit‹ und ›Unterdrückbarkeit‹ der Sexualität durch historisch bestimmte Produktions- und Herrschaftsverhältnisse…« (222)

Dies wird später noch ausgeführt.


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[1] Kap. 6.1: http://grundlegung.de/artikel/6-1-von-gelernten-orientierungs-zu-mittelbedeutungen/

[2] Kap. 3.2: http://grundlegung.de/artikel/3-2-orientierung-und-ausfuehrung/