7.1 Evolutionäre Grundlagen der Wahrnehmung

Wir beginnen mit den drei elementaren Orientierungsformen wie sie in Kapitel 3.1 [1] in Abb. 5 [2] illustriert worden sind. Sie sollen nun für die (vor-) menschliche Stufe der Perzeptions-Operations-Koordination diskutiert werden.

Die Gradientenorientierung ermöglicht mittels Bewegung entlang eines Gradienten eine Richtungssteuerung, wobei die emotionale Wertung lediglich einen On-Off- und — falls es zur Aktivität kommt — einen Beschleunigungseffekt hat. Mittels der Aussonderung/Identifizierung ist es dann möglich, ein vom Untergrund abgehobenes »Ding« in Distanz zur Sinnesfläche zu erfassen. Auf dieser Grundlage kommt es zu einer Verselbstständigung der Orientierungs- von den Ausführungsaktivitäten, wobei die Ergebnisse der orientierten Umweltinformationen verinnerlicht und im zentralen Nervensystem gespeichert werden. Dabei werden die Informationen nicht nur passiv von der Umwelt empfangen, sondern »in für die Lebenserhaltung ›funktionaler‹ Weise aus der Umwelt ›herausgeholt‹« (253).

Abb. 19: Entwicklung der elementaren Orientierungsfunktionen bis zum Menschen (Klicken zum Vergrößern).

Diese beiden einfachen Orientierungsformen sind als unspezifische Grundlage nach wie vor im menschlichen Erkenntnisprozess nachweisbar (vgl. zu den weiteren Erläuterungen jeweils Abb. 19). Bei stark eingeschränkten Orientierungsbedingungen (Dunkelheit etc.) kann auf sie als »Fallback« zurückgegriffen werden (Orientierung an einem Lichtpunkt in der Dunkelheit etc.). Beide Formen haben auf dem Weg zur Menschwerdung eine Eigenevolution durchlaufen und sind somit als solche nicht unmittelbar mit entsprechenden tierischen Funktionen vergleichbar. Inwieweit Analogien zulässig sind, ist eine aktualempirisch zu klärende Fragestellung.

Die Orientierungsform der Diskrimination/Gliederung ermöglicht eine sachliche Gliederung des Orientierungsfelds, in dem verschiedene, gleichzeitig vorhandene Bedeutungen diskriminiert werden können. Durch Realabstraktion werden dabei artspezifisch relevante gegenüber irrelevanten Merkmalen in der Orientierung herausgehoben. Die Diskriminations- und Gliederungsfunktion ist im Unterschied zu den beiden einfacheren Formen vollständig in den Prozess der Menschwerdung einbezogen und kommt in der ursprünglich-elementaren Ausprägungsform beim Menschen nicht mehr vor. Sie wurde sie im Zuge der Herausbildung der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit (vgl. Kapitel 4 [3]) evolutionär verändert, wobei hierbei die beiden Lernformen zu unterscheiden sind:

  • subsidiäres Lernen bezogen auf Primärbedeutungen
  • autarkes Lernen bezogen auf Mittelbedeutungen

Subsidiäres Differenzierungslernen (als selektive Differenzierung bezeichnet) bezog sich auf festgelegte primäre Bedeutungseinheiten, deren realabstraktive Ausgliederung durch Erfahrungen modifiziert werden konnte. Auch beim Menschen existieren solche biotisch präformierten Schlüsselkonstellationen, deren Bevorzugungen subsidiär gelernt werden. Im Bereich der sexuellen Primärbedeutungen sind dies bestimmte Körper- und Bewegungsmerkmale, die lediglich subsidiär gesellschaftlich hervorgehoben oder unterdrückt werden — etwa in Form von wiederkehrenden »Moden« dessen, was als sexuell attraktiv oder unakzeptabel gilt. Im Bereich der existenzsichernden Primärbedeutungen sind dies zum Beispiel gesellschaftlich-kulturell überformte Vorstellungen dessen, was als »essbar« ist und in welcher Form »gegessen« wird.

Durch subsidiäres Lernen modifizierte Schlüsselkonstellationen sind jedoch nur unselbstständige Momente innerhalb von den (autark gelernten) Mittelbedeutungen her strukturierten Wahrnehmungen, die für die gesellschaftliche Natur des Menschen bestimmend werden:

»als Akzentuierung und Zusammenschluß von Merkmalskombinationen, die Wärme, Trockenheit, Licht, Atemluft, Ruhe, soziale Einbettung etc., mithin elementare Grundbedingungen menschlicher Existenzerhaltung ›bedeuten‹« (259)

Die Veränderung individueller Erkenntnisprozesse durch autarkes Lernen wird im nächsten Teilkapitel behandelt.


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[1] Kapitel 3.1: http://grundlegung.de/artikel/3-1-drei-formen-der-orientierung/

[2] Abb. 5: http://grundlegung.de/data/drei-formen-der-orientierung-gross.gif

[3] Kapitel 4: http://grundlegung.de/artikel/4-lern-und-entwicklungsfaehigkeit/