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9.4 Bedürfnisse

Abb. 25: Entwicklung der Bedeutungs-Bedarfs/Bedürfnis-Verhältnisse (Klicken zum Vergrößern).

Mit der Möglichkeitsbeziehung der Individuen zu den gesellschaftlichen Bedingungen ändern sich die Bedeutungs-Bedürfnis-Verhältnisse qualitativ. Abb. 25 zeigt schematisch die Entwicklung von Bedeutungen und Bedarf bzw. Bedürfnissen von der phylogenetischen Stufe einschließlich der Lernfähigkeit (gelb), über die Sozialkooperation (grün) bis zur gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz (blau).

Auf der Seite des Bedarfs ist der globale Kontrollbedarf die emotionale Regulationsgrundlage für die widersprüchliche Steuerung zwischen Energiemobilisierung und Angstbereitschaft angesichts unbekannter sachlicher und sozialer Gegebenheiten in der Umwelt. Aus der bloß individuellen Umweltkontrolle entwickelt sich in der Sozialkooperation die unmittelbar-kooperative Verfügung über die Schaffung der Lebensbedingungen mit dem Ziel der vorsorgenden Absicherung der primären Bedürfnisbefriedigung und Abwendung der Angstbereitschaft.

Mit der gesamtgesellschaftlichen Integration schließlich bilden die produktiven Bedürfnisse die spezifisch-menschliche Bedürfnisgrundlage der individuellen Handlungsfähigkeit. Die komplementären, von der Realisierung der produktiven Bedürfnisse (also dem Grad der Handlungsfähigkeit) abhängigen primären Bedürfnisse werden sinnlich-vitale Bedürfnisse genannt. Holzkamp weist darauf hin, dass zwei Arten von Missverständnissen zu vermeiden seien.

Erstens sei mit dem Begriff der produktiven Bedürfnisse nicht eine Art »Produktionsbedürfnis« gemeint. Es sei auch nicht »irgendeine individuell-kreative Aktivität« angesprochen, sondern »die Bedürfnisgrundlage der individuellen Teilhabe an der Verfügung über den gesamtgesellschaftlichen Produktions-/Reproduktionsprozeß« (242). Unter den Bedingungen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz ist es nicht mehr möglich, die eigene Existenz vorsorgend bloß unmittelbar-kooperativ abzusichern. Dies geht nurmehr über die Beteiligung am gesamtgesellschaftlichen Prozess vermittelt über die jeweiligen Möglichkeiten in der individuellen Lebenslage und Position angesichts der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse.

Zweitens dürfe die Herkunft der produktiven Bedürfnisse aus dem Kontrollbedarf nicht dazu verleiten anzunehmen, der Mensch habe ein allgemeines »Kontrollbedürfnis« und wolle generell seine Lebensbedingungen »kontrollieren«. »Kontrolle« wäre der Versuch, die fehlende Verfügung über die Lebensbedingungen zu kompensieren und somit ein »Symptom der Isolierung des Individuums von den gesellschaftlichen Verfügungsmöglichkeiten« (243).

Unnummeriert fügt Holzkamp ein dritte »Missdeutung« an, die ebenfalls zu vermeiden sei: Es gebe kein selbstständiges Bedürfnis nach Arbeit:

»Nicht die ›Arbeit‹ als solche ist erstes Lebensbedürfnis, sondern ›Arbeit‹ nur soweit, wie sie dem Einzelnen die Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess erlaubt, ihn also ›handlungsfähig‹ macht. Mithin ist nicht ›Arbeit‹, sondern ›Handlungsfähigkeit‹ das erste menschliche Lebensbedürfnis – dies deswegen, weil Handlungsfähigkeit die allgemeinste Rahmenqualität eines menschlichen und menschenwürdigen Daseins ist, und Handlungsunfähigkeit die allgemeinste Qualität menschlichen Elends der Ausgeliefertheit an die Verhältnisse, Angst, Unfreiheit und Erniedrigung.« (243)

Interessant ist hierbei, dass Holzkamp seinen »Kommentar« als allgemeine (auf keine bestimmte Gesellschaft bezogene) Präzisierung des Marxschen Diktums von der Arbeit als »erste(s) Lebensbedürfnis« (MEW 19, 21) ansieht. Marx bezieht sich auf eine »höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft«, in der »die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben« (ebd.) sei. Kommunismus wird mithin implizit als die Gesellschaft angesehen, die die »Rahmenqualität eines menschlichen und menschenwürdigen Daseins« bietet.

Die Möglichkeitsbeziehung und erkennende Distanz beziehen sich nun nicht nur auf die Welt, sondern auch auf sich selbst als Teil dieser Welt — eingeschlossen die eigenen Bedürfnisse. Das Individuum muss also auftretende Bedürfnisse nicht unmittelbar befriedigen, sondern hat die

»Möglichkeit, seine jeweils gegebene Bedürftigkeit zunächst als solche›zur Kenntnis zu nehmen‹, und aus dieser ›gnostischen‹ Beziehung heraus sich zu seinen Bedürfnissen zu ›verhalten‹, d.h. ihre Befriedigung gemäß den gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten zu planen, umzustrukturieren, aufzuschieben, ja sogar seine aktuellen Bedürfnisse um allgemeiner, langfristiger Ziele willen ›bewusst‹ zu vernachlässigen.« (244)

Die fremdbestimmte Unterdrückung von Bedürfnissen erhält ihre »menschliche Spezifik« (mithin Unmenschlichkeit) dadurch, dass nicht nur die Bedürfnisbefriedigung als solche verwehrt bleibt, sondern auch die Möglichkeit des bewussten Verhaltens zu den eigenen Bedürfnissen abgeschnitten wird. Holzkamp veranschaulicht dies an einem Beispiel: Wenn ein Individuum Hunger leidet,

»so leidet es nicht nur isoliert ›Hunger‹ als spezielle Bedürfnis-Spannung, sondern es leidet darin und gleich elementar an seiner Ausgeliefertheit an eine Situation, in welcher es so weitgehend von der vorsorgenden Verfügung über seine eigenen Lebensbedingungen abgeschnitten ist, dass es ›hungern‹ muß« (246)

Es geht also nicht nur um den sinnlich-vitalen Bedürfnisaspekt eines Lebens ohne Hunger, sondern ebenso um den produktiven Bedürfnisaspekt einer Verfügung über die Befriedigungsquellen »ohne die fremdbestimmte Bedrohtheit durch Hunger, also ein menschenwürdiges Leben« (ebd.).

Wenn nun die Unmittelbarkeit des Verhältnisses zwischen Bedürfnissen und Handlungen durchbrochen ist, ändert sich auch der Charakter der Emotionalität. Die emotionale Wertung führt nicht mehr unmittelbar zur Aktivität, sondern wird vom Individuum zunächst bewusst in erkennender Distanz erfahren. Die so gefasste emotionale Befindlichkeit wird zur überdauernden personalen Grundlage der Wertung der Lebensbedingungen des Individuums. Die Befindlichkeit ist der subjektive Maßstab für individuelle Entscheidungen angesichts gegebener Handlungsmöglichkeiten.

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Ein Kommentar

  • […] Die individuellen Handlungen sind in den Lebensbedingungen begründet. Was heißt das? Die Handlungsgründe besitzen zwei inhaltliche Bezüge: Auf der ›Weltseite‹ ist dies der objektive Handlungszusammenhang mit seinen Bedeutungs- und Denkstrukturen; auf der ›Individuumsseite‹ sind dies die individuellen Bedürfnisse, genauer: die produktiven Bedürfnisse der Teilhabe an der Verfügung über die Bedingungen der gesellschaftlichen und damit individuellen Vorsorge zur Befriedigung der sinnlich-vitalen Bedürfnisse in menschlicher Qualität (vgl. Kap. 9.4). […]

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