Seite drucken

5. Hominini-Entwicklung

Abb. 14: Die Entstehung der gesellschaftlichen Natur des Menschen im dritten Fünfschritt (Klicken für alle Fünfschritte).

Der dritte Fünfschritt ist erreicht (vgl. Abb. 14). Dieser hat es allerdings in sich, geht es doch darum, die besondere Qualität des neuen Entwicklungsprozesses gegenüber dem evolutionären Prozess zu verstehen. Das Menschsein ist nicht — wie etwa die Lern- und Entwicklungsfähigkeit — nur eine weitere Qualität, die in der Entwicklung hinzutritt, während der evolutionäre Prozess kontinuierlich fortgeht, sondern der Entwicklungstyp selbst hebt sich auf. Mutation und Selektion als bestimmendes Entwicklungsprinzip endet und wird durch den neuen Typ der gesellschaftlich-historischen Entwicklung abgelöst.

Ausgangspunkt im ersten Schritt des dritten (und letzten) Fünfschritts sind die Fähigkeiten der Primaten und im zweiten Schritt die Umweltveränderungen, die zu einem Selektionsdruck führen, der die Entwicklung hin zu den Hominini bewirkt.

Exkurs

An dieser Stelle ist eine terminologische Klärung erforderlich. Bis in die 1980er Jahre hinein — die GdP erschien 1983, die Forschungen lagen großenteils in den 1970ern — galt die Einteilung in Pongiden (Pongidae) und Hominiden (Hominidae), wobei die Bezeichnung »Hominiden« in der GdP für Vormenschen verwendet wird, die die gesellschaftliche Natur noch nicht erreicht haben. Nach neuerer Taxonomie bezeichnen Hominiden (Hominidae) insgesamt Menschenaffen, innerhalb derer die Homininae Gorillas und Schimpansen (inkl. Vorfahren) sowie die Gattungen der Hominini umfassen, von denen nur die Art Homo Sapiens der Gattung Homo noch lebt. Die Hominini entsprechen folglich den »Hominiden« der GdP, weshalb diese Bezeichnung in dieser Einführung verwendet wird.

Zu den keimförmigen Fähigkeiten der Primaten gehören die relativen Körperaufrichtung als Resultat der hangelnden Fortbewegung im Biotop des tropischen Waldes und die Ausbildung der Feinmotorik der Hände einschließlich der entsprechenden Orientierungsleistungen im Nahbereich, die frühe Formen der Mittelherrichtung und -benutzung ermöglichen. Die gelernten Sozialbeziehungen werden differenzierter, individueller und dauerhafter, Jagdaktivitäten koordinierter.

Nach der bislang am besten belegten These kam es in Afrika zu dramatischen Umweltveränderungen, die zum Zurückgehen der ausgedehnten Waldgebiete führten. Die aus dem Wald in das neu entstehende Biotop der Steppen und Savannen gedrängten Primaten waren einem völlig neuen Anpassungsdruck ausgesetzt. Das Nahrungsangebot war stark limitiert und Flucht vor Raubfeinden auf Bäume war nicht mehr oder nur noch eingeschränkt gegeben.

Die Körperaufrichtung als neue Möglichkeit der Fernorientierung und Umweltkontrolle in der Savanne führte zur Herausbildung der Zweibeinigkeit. Diese wiederum machte die Hände frei für neue Formen der manipulativen Orientierung als »verbessertes Zueinander von tastender (›haptischer‹) und visueller Exploration« (165). Gegenständliche Mittel können nun gezielter für bestimmte Funktionen hergerichtet werden (Jagd, Verteidigung, Nahrungsangeln etc.). Resultat der ernormen evolutionären Anpassungsleistung war die erhebliche Zunahme des Hirnvolumens.

5.1 Sach- und Sozialintentionalität

Die neuen Fähigkeiten der Herrichtung und Benutzung von Mitteln führen zu einer neuen kognitiven Qualität beim autarken Lernen (vgl. Kapitel 4.3): Aus dem Erfassen von sachlichen und zeitlichen Relationen wird nun das Herstellen sachlicher Zusammenhänge und zukünftiger Ereignisse. Die mit Sachintentionalität bezeichnete neue Stufe des autarken Lernens ermöglicht ein neues Maß an sachlicher Umweltkontrolle, wobei der Kontrollbedarf beim autarken Lernen die wesentliche Bedarfsgrundlage darstellt. Das

»probierende Manipulieren mit ›Mitteln‹ (erlangt) die Funktion der Erschließung von neuen Verweisungszusammenhängen, also ›gelernten Orientierungsbedeutungen‹ der Gegenstände« (166)

Das Lernen von Orientierungsbedeutungen durch aktives Eingreifen in die Umwelt und veräußerlichen des inneren Probierens an den manipulierten Objekten sowie die Beobachtung der dadurch hervorgerufenen Effekte ist eine Vorform des »Denkens am Objekt«, es ist aber noch kein Denken im menschlichen Sinne. Die entsprechenden Aktivitäten werden emotional vermittelnd »automatisch« gesteuert und besitzen eine eigene Wertigkeit bei der Befriedigung des Bedarfs nach Umweltkontrolle.

Neben der Sachintentionalität bildet sich ebenso eine auf die Mitglieder der Gesellungseinheit gerichtete Sozialintentionalität heraus. In den größer gewordenen Sozialverbänden kommt es zu

»einer Form von gelernter sozialer Funktionsteilung, in welcher verschiedene Mitglieder der Sozietät jeweils nur Teile einer mehrgliedrigen Aktivitätssequenz übernehmen, sodaß das biologisch relevante Gesamtziel nur über die kollektive Realisierung der einzelnen Teilziele erreicht werden kann.« (169)

Die Artgenossen setzen sich wechelseitig als Werkzeuge für die Erreichung von bestimmten antizipierten Zwecken ein. Solche Formen des sozialen Werkzeuggebrauchs, funktionsteiliger sozialer Koordination und reziproker Intentionalität können einen komplexen Charakter annehmen. Berühmt geworden ist das Jäger-Treiber-Beispiel von Leontjew (1973):

»Bei einer Form von gemeinsamer Jagd, bei welcher ›Treiber‹ das Wild aufscheuchen, damit es vom ›Jäger‹ erbeutet werden kann, übernimmt der ›Treiber‹ eine Teilaktivität, die nur im Gesamt der überindividuell organisierten Jagd ihre Funktion hat, wobei … der Treiber seine Teilfunktion in Antizipation des Umstandes übernimmt, daß er später am Verzehr der vom Jäger erlangten Beute teilhaben wird.« (169)

Der Bedarf nach Umweltkontrolle richtet sich nun nicht nur auf die individuell beeinflussbaren sachlichen Umweltbedingungen und auch nicht nur auf einzelne Artgenossen, sondern der individuelle Bedarf kann erst befriedigt werden, wenn eine kollektive Kontrolle auf Basis der Umsetzung der überindividuell koordinierten Aktivitätssequenzen erreicht werden konnte.

Mit der Sozialkoordination entsteht auf Seiten des Individuums eine soziale Motivation, deren emotionalen Vorausahnungen (Antizipationen) die individuellen Aktivitäten nun insoweit bewerten, wie sie ein Beitrag zum kollektiven Erfolg darstellen. Nur über den kollektiven Erfolg der sozial koordinierten Aktivitäten kann auch die individuelle primäre Bedarfsbefriedigung (Teilhabe an der Beute etc.) erreicht werden.

Der komplexe Zusammenhang zwischen eigenem Betrag und kollektivem Erfolg setzt keineswegs eine Art »denkender Einsicht« voraus. Die emotional vermittelte automatische Steuerung erfolgt über die soziale Motivation, die sich zunehmend verselbstständigt. Damit sind primäre Bedarfsspannungen (»Hunger«) immer weniger Voraussetzung für die kollektiven Aktivitäten. Die Verselbstständigung der sozialen Motivation hat die biotische Funktion, bereits im Vorfeld das mögliche Auftreten von Bedarfsspannungen vorsorgend zu verhindern.

Das individuelle Auftreten von kritischen Bedarfszuständen wird nun umgekehrt

»zum Anzeichen von Mängeln der kollektiven Organisation der Lebensgewinnung, sodaß sich die Motivation des Einzelnen darauf richten muß, die Vermeidung der eigenen Lebensbedrohung als seinen Beitrag zur kollektiven Organisation der primären Befriedigung anzustreben. (172)

5.2 Zweck-Mittel-Umkehrung

Abb. 15: Funktionswechsel der Zweck-Mittel-Umkehrung als erster qualitativer Sprung im dritten Fünfschritt (Klicken für alle Fünfschritte)

Wir haben nun im dritten Fünfschritt den ersten qualitativen Sprung auf dem Weg zur Menschwerdung erreicht (Abb. 15). Zur Erinnerung: Die soziale Motivation, also Antizipationen, die sich auf die Befriedigung primärer Bedarfe nach erfolgreichen kollektiven Aktivitäten richten, steuern auch die Mittelherrichtung und -benutzung in der Sozialkoordination. Trotz der möglichen Funktion innerhalb einer kollektiven Aktivitätssequenz, handelt sich dennoch nur um individuelle und nicht um soziale Mittel. Die Bedeutung der Mittel ist noch nicht dauerhaft, allgemein und für andere verfügbar, sondern »verschwindet« nach Zweckerreichung wieder im »Hintergrund« der Umwelt: Die Orientierungsbedeutung des Mittels wird deaktualisiert.

Mit der Zweck-Mittel-Umkehrung ändert sich dies qualitativ. Das Mittel wird nun nicht erst für den aktuellen Bedarfsfall, dass es in einer (individuellen oder kollektiven) Aktivitätssequenz gebraucht wird, geschaffen, sondern wird unabhängig für Fall hergerichtet, dass es einmal gebraucht werden könnte. Das Mittel wird

»zunächst quasi als ›Selbstzweck‹ bereitgestellt und aufgehoben, behält also seine Orientierungsbedeutung als ›Mittel‹ in generalisierter Weise auch dann, wenn … (es) gerade nicht gebraucht wird.« (173)

Das Mittel ist nun gleichsam vor dem Zweck da und besitzt eine dauerhafte und verallgemeinerte soziale Bedeutung:

»Die hergestellten Werkzeuge werden … nicht zum individuellen Gebrauch aufgehoben, ihre verallgemeinerte Benutzbarkeit ist vielmehr eine soziale Verallgemeinerung: Sie stehen den Mitgliedern des Sozialverbandes ›für den Fall‹, daß sie gebraucht werden, zur Verfügung.« (174)

Der individuell Werkzeuge erfindende und nutzende Hominini ist also eine Fiktion und vermutlich einer ontologisierenden Rückprojektion des bürgerlichen Menschenbildes eines isolierten Individuums (»Warenmonade«) geschuldet. Vielmehr sind

»der kognitive Aspekt der Schaffung von Mitteln für verallgemeinerte Zwecke und der soziale Aspekt der kollektiven Vorsorgezwei Seiten des gleichen Entwicklungsprozesses: Die geschilderte Sachintentionalität und Sozialintentionalität sind damit auf neuem Niveau integriert« (174)

Mit der Zweck-Mittel-Umkehrung beginnt ein völlig neuer Prozess der Lebensgewinnung. Die Lebensbedingungen werden nun nicht mehr nur vorgefunden, sondern in kollektiver Vorsorge geschaffen.

Bevor im nächsten Kapitel 6 dieser qualitativ neue Prozess der Herstellung der Lebensbedingungen dargestellt wird, ist zunächst ein methodischer Einschub erforderlich, in dem erklärt wird, warum die weitere Darstellung in dieser Einführung von der GdP abweichen wird.

5.3 Methodische Zwischenbemerkung

Bereits im ersten Kapitel habe ich mir eine Abweichung der Darstellungsreihenfolge dieser Einführung von der GdP erlaubt. Damals hatte ich die methodischen Überlegungen zum Fünfschritt vor die inhaltlichen Ausführungen gezogen. Dies geschieht nun erneut, in gewisser Weise jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen: Ich schiebe die methodisch-inhaltlichen Bemerkungen zum »Wechsel der Analyseebene« an die Stelle, an die sie »chronologisch« gehören. Ferner sortiere ich auch die inhaltlichen Kapitel chronologisch um (vgl. zur Übersicht Abb. 16).

Abb. 16: Kapitelstruktur der Einführung (links) und der GdP (rechts) im Vergleich (Klicken zum Vergrößern)

In der GdP folgen nach der Darstellung der Zweck-Mittel-Umkehrung (dem Funktionswechsel im dritten Fünfschritt) zwei umfangreiche Kapitel (5.3 und 5.4), in denen Klaus Holzkamp ausführlich begründet, warum sich die gesellschaftliche Natur des Menschen zwar evolutionär herausgebildet hat, sich selbst aber auf der neu erreichten Grundlage nicht mehr evolutionär entwickelt. Der Grund besteht — kurz vorgegriffen — darin, dass die gesellschaftlich-historische Entwicklung um Größenordnungen schneller abläuft als die evolutionäre Entwicklung, so dass sie diese als Entwicklungsprinzip ablöst (ausführlich in Kapitel 8 dieser Einführung). Die Änderung der Analysemethode ist dann eine Konsequenz aus dem Wechsel im Entwicklungstyp.

Nach der Erklärung, warum ein Wechsel der Analyseebene notwendig ist, erfolgt in der GdP ein zweifacher Durchgang durch das Material rund um den Dominanzwechsel: Einmal die inhaltliche Kategorialanalyse (Bedeutungen und Bedürfnisse) und zum zweiten die funktionale Kategorialanalyse (Wahrnehmung, Emotionalität, Motivation). Dadurch, dass zwei Mal zwischen Funktions- und Dominanzwechsel eingestiegen und nach dem Dominanzwechsel geendet wird (wobei in Unterkapiteln obendrein Erkenntnisse aus der Phase vor dem Funktionswechsel rekapituliert werden) und das dargelegte Material selbst sehr komplex ist, ist schon so Manchem in diesen Kapiteln die Übersicht verloren gegangen.

Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, eine logisch-chronologische Reihenfolge der Darstellung zu verwenden. Nach dem Funktionswechsel werden also nacheinander die Ergebnisse der inhaltlichen und der funktionalen Kategorialanalyse jeweils bis kurz vor dem Dominanzwechsel (noch auf Hominini-Niveau) vorgestellt. Dann wird der Wechsel der Analyseebene, der sich aus dem Dominanzwechsel ergibt, in inhaltlicher und methodischer Hinsicht erklärt. Schließlich wird die inhaltliche und der funktionale Kategorialanalyse für das menschliche Entwicklungsniveau nach dem Dominanzwechsel vorgestellt — an die schließlich die weiteren Kapitel in alter Reihenfolge anschließen.

Die verschränkte Darstellung in der GdP ist durchaus sinnvoll. Sie folgt dem Gedanken, dass die Qualität der jeweils einzelnen Entwicklungsaspekte und -dimensionen nur wirklich verstanden werden kann, wenn vorher die neue Qualität des Gesamtprozesses verstanden worden ist. Damit entspricht die Darstellung eher dem Forschungsprozess, während eine »chronologische Erzählung« diesen ausblendet. Zur logisch-chronologischen Darstellung habe ich mich aber dennoch entschlossen, weil ich sie für Einsteiger_innen, die einen Überblick über den Gesamtinhalt der GdP bekommen wollen, für deutlich eingängiger halte.

Mit dem logisch-zeitlichen Ablauf im Hinterkopf mag es dann auch einfacher sein, sich im Dschungel der GdP zu orientieren. Die roten Rahmen in der rechten Spalte markieren jeweils den entsprechenden Kapitelort in der GdP, der im aktuellen Artikel der Einführung gerade vorgestellt wird.

Die chronologische Darstellung hat jedoch auch einen Nachteil: Bevor der Entwicklungsprozess nicht rekapituliert wurde, ist nicht klar, wohin er läuft. Gleichzeitig ist die Entwicklungsrichtung grob bekannt und muss mindestens an einigen Stellen terminologisch schon eingeführt werden, bevor der Bedeutungsgehalt ausreichend dargestellt werden kann. Diese Vorgehensweise habe ich allerdings auch schon bisher praktiziert. So wurde der Begriff der gesellschaftlichen Natur des Menschen bereits in Kapitel 2 eingeführt, obwohl noch überhaupt nicht klar war, was damit genau gemeint ist.