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2. Entstehung des Psychischen

Abb. 3: Die drei Fünfschritte der GdP (Klicken zur Detailansicht)

Im letzten Abschnitt wurde die allgemeine Fassung des methodischen Fünfschritts vorgestellt. Nun gilt es die fünf Schritte auf den jeweiligen Untersuchungsgegenstand anzuwenden. In der GdP geschieht dies drei Mal. Die nebenstehende Abbildung 3 zeigt die drei Fünfschritte.

Der erste Fünfschritt befasst sich mit der Entstehung des Psychischen als qualitativ neuer Funktion des Lebendigen. Im zweiten Fünfschritt geht es um die Ausdifferenzierung des Psychischen. Schwerpunkt ist die Entstehung der Lernfähigkeit und die Bildung von Sozialverbänden. Der dritte Fünfschritt führt zur Entwicklung der gesellschaftlichen Natur des Menschen, womit auch die biotische Evolution als Entwicklungsmotor endet. Damit gelangt auch der Fünfschritt als Analysemethodik für den Gegenstand des Psychischen an seine Grenze.

Keine Angst, dieser kurze, vielleicht noch nicht ganz verständliche Ausblick wird den folgenden Abschnitten ausführlich erklärt. Zunächst geht es um die Herausbildung des Psychischen.

2.1 Der vorpsychische Lebensprozess

Wenn das Psychische die Grundkategorie ist, die die Wissenschaft der Psychologie ausmacht, dann ist die entwicklungslogisch zu beantwortende Frage die nach ihrer Entstehung: Wie sah das Leben ohne »Psychisches« aus und warum entwickelte sich das Psychische? Um der Beantwortung näher zu kommen, ist zunächst zu klären, was eigentlich »Leben« ist. Klaus Holzkamp erklärt in der GdP, dass hier eigentlich weiter »nach vorne« gefragt werden müsse, da

»auch der Lebensprozeß selbst historisch geworden und als Grundform neuer Qualität aus vorbiologischen Prozessen hervorgegangen ist«. (59)*

Dies unterbleibt jedoch ausdrücklich, weil hier von Seiten der Kritischen Psychologie keine neuen Beiträge erbracht worden seien und man sich auf den einschlägigen Stand in der Biologie beziehen könne. An anderer Stelle habe ich jedoch ausgeführt (Meretz 1992), dass sich eine Untersuchung des Übergangs von vorbiotischen zu biotischen Prozessen auch im Hinblick auf eine vertiefte Analyse des Psychischen, insbesondere unter dem Informationsaspekt, durchaus lohnen könnte. Ich werde zu gegebener Zeit darauf zurückkommen.

Für den Evolutionsprozess sind zwei Strukturebenen zu betrachten: die Ebene der Population und die Ebene des einzelnen Organismus. Im Verhältnis der beiden Ebenen ist die Ebene der Population die bestimmende. Der einzelne Organismus interessiert nur insofern, als er die Überlebenswahrscheinlichkeit der Population erhöht oder mindert. Die folgenden vier Kriterien für »Leben« können systematisch diesen beiden Ebenen zugeordnet werden.

Population: strukturidentische Selbstreproduktion durch

  • Vermehrung: Jede Population artgleicher Organismen muss sich vermehren, um sich über die Zeit zu erhalten. Das Genom ist dabei der informationelle Träger der prinzipiellen Artgleichheit.
  • Mutagenität: Die Reproduktion erfolgt nicht vollständig identisch, sondern genomische Abweichungen im Vermehrungsprozess führen zu Merkmalsvariationen, die ihrerseits erblich sein können.

Organismus: Erhaltung der Strukturidentität durch

  • Stoffwechsel: Durch Aufnahme und chemische Umwandlung von Stoffen (Assimilation) sowie Abgabe von Endprodukten (Dissimilation) wird Energie gewonnen, mit der der Organismus seine innere Stabilität gegenüber (in einem verträglichen Rahmen) wechselnden Umweltbedingungen aktiv aufrechterhalten kann.
  • Reizbarkeit: Gleichursprünglich mit dem energetischen ist der informationelle Aspekt. Der Organismus kann selektiv auf stoffwechselrelevante und -irrelevante oder abträgliche Umweltbedingungen reagieren, d.h. in unterschiedliche Aktivitäten umsetzen (z.B. Assimilation zulassen, blockieren etc.)

Vermehrung und Mutagenität sind also die »Mittel« der Population, auf Umweltveränderungen durch Entwicklung zu »reagieren«. Stoffwechsel und Reizbarkeit sind der energische und informationelle Aspekt bei der Aufrechterhaltung der physischen Integrität des Organismus. Zwei Schlüsse sind an dieser Stelle wichtig: Entwicklung und Erhaltung sind Bestandteile des gleichen Prozesses, und der Organismus ist nicht isoliert zu betrachten, sondern das Organismus-Umwelt-Verhältnis ist stets in seinem Zusammenhang zu analysieren.

Umwelt und Organismus stehen allerdings nicht wie bei Prozessen der unbelebten Natur in einem unmittelbaren Ursache-Wirkungs-Verhältnis, sondern Umwelttatsachen werden jetzt zweifach vermittelt: Sie bewirken einerseits aktuell eine aktive Erhaltung der Systemintegrität und schlagen sich andererseits vermittelt über Entwicklung genomisch nieder. Diese Sichtweise wird als »funktional« bezeichnet.

Auf der Ebene des Organismus ist eine Aktivität dann funktional, wenn sie bei gegebenen Umweltbedingungen die Ausrechterhaltung der Systemintegrität bewirkt. Auf der Ebene der Population werden Umweltbedingungen in der Evolution funktional durch strukturelle Anpassungen der Organismen an diese Bedingungen widergespiegelt, die eine größe Überlebenswahrscheinlichkeit bedeutet. Klaus Holzkamp bringt das Beispiel des Fisches, dessen Form die Eigenschaften des Wasser nicht unmittelbar-kausal, sondern funktional widerspiegele. Die historisch-empirische Analysemethode der Kritischen Psychologie wird daher auch funktional-historische Analyse genannt.

*Anmerkung: Klaus Holzkamp verwendet stets den wissenschaftsbezogenen Terminus »biologisch« anstatt den gegenstandsbezogenen Terminus »biotisch« (Biologie = Wissenschaft vom Biotischen).

2.2 Von der Reizbarkeit zum signalvermittelten Leben

Abb. 4: Die Entstehung des Psychischen im ersten Fünfschritt (alle Fünfschritte: Bild anklicken).

Es geht nun darum, den ersten Fünfschritt (von insgesamt dreien, vgl. Abb. 4) nachzuzeichnen.

1. Keimform

Ausgangspunkte des qualitativen Entwicklungszyklus sind Reizbarkeit und ungerichtete Ortsveränderungen. Der Kontakt des Organismus über seine Oberfläche mit seiner Umgebung kann selektiv aktiv genutzt werden. Die Fähigkeit zu ungerichteten Bewegungen liegt unverbunden noch bloß neben der Reizbarkeit vor. Unterschiedlich geeignete Umweltgegebenheiten werden also zufällig erreicht und per Oberflächenkontakt selektiv genutzt. Dass es bei Kontakt mit lebensfeindlichen Umgebungen für den Organismus »zu spät« sein kann, aktiv seinen Untergang zu vermeiden, liegt auf der Hand.

2. Krise

Die »Aufhebung« des Risikos als Population unterzugehen, wenn alle Einzelorganismen im lebensfeindlichen Milieu absterben (oder weil zufällig keine nährstoffreiche Region per ungerichteter Bewegung erreicht werden) besteht darin, Reizbarkeit und Bewegungsfähigkeit in der weiteren Entwicklung »zusammenzuschließen«. Damit dies möglich ist, muss sich der Entwicklungswiderspruch zwischen den Polen eines »Systemkollapses« und der »Stagnation« bewegen. Die Krise im Organismus-Umwelt-Zusammenhang darf also nur ein mittleres Ausmaß haben, so dass mutierte Organismen mit erweiterten Fähigkeiten im Sinne des Zusammenschlusses von Reizbarkeit und Bewegungsfähigkeit eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit besitzen, weil sie in verbessertem Maße selektiv Umweltgegebenheiten auswerten können.

3. Funktionswechsel

Der entscheidende Schritt zum ersten qualitativen Sprung vollzieht sich durch Herausbildung der Sensibilität als selektive Nutzung stoffwechselneutraler Gegebenheiten (»Signale«) zum Zwecke einer zielgerichteten Bewegung. Organismen mit diesem Fähigkeiten erlangen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit, weil jetzt Signale, die nur mehr mittelbar auf Umweltzustände verweisen, selektiv so ausgewertet werden können, dass ein ggf. tödlicher Kontakt (oder ein ergebnisloser Energieverbrauch durch ungerichtete Bewegung) vermieden wird. Die Nutzung von Signalen entkoppelt und in Distanz zur Gefahr (oder zur Nahrung) durch zunehmend mehr Organismen erhöht auch die Wahrscheinlichkeit des Überlebens der Population, in der ungerichtete Bewegung und unvermittelter Umweltkontakt jedoch noch vorherrschen.

4. Dominanzwechsel

Mit dem Dominanzumschlag entwickelt setzt sich die Sensibilität schließlich als bestimmende Form der signalvermittelten Lebenstätigkeit durch, womit das Psychische auf seinen Begriff kommt. Negative (Gefahren) wie positive (Nahrung) Umweltgegebenheiten werden jetzt nicht mehr unmittelbar durch Kontakt erfahren, sondern Signale (Temperatur, Licht etc.), die keine Stoffwechselfunktion haben, werden als Mittler ausgewertet, um aktiv die Bewegung in Distanz auf die relevante Umweltsituation anzupassen. Die frühere »unvermittelte« Lebenstätigkeit tritt demgegenüber zunehmend zurück.

5. Umstrukturierung

Die signalvermittelte Lebenstätigkeit, also das Psychische, differenziert sich nun auf Basis der neuen vermittelten Form der Umweltbegegnung in verschiedene Formen der Orientierung, Emotionalität, Motivation und Kommunikation aus. Es bilden sich spezialisierte Sinnesorgane und Fortbewegungssysteme aus, interne Formen der Signalübertragung und Auswertung (Zentrales Nervensystem) entstehen und die Kontaktfläche zur Umwelt verliert die Möglichkeit zur direkten Nahrungsaufnahme und kann als »Haut« neue Funktionen übernehmen.

Der nächste Abschnitt befasst sich mit der Entwicklung der verschiedenen Orientierungsformen, der Emotionalität, der Motivation und der Kommunikation.