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8. Wechsel der Analyseebene

Abb. 23: Dominanzwechsel zur gesellschaftlichen Entwicklung im dritten Fünfschritt (Klicken für alle Fünfschritte).

Wir haben nun die Entwicklung der Bedeutungs-Bedürfnis-Verhältnisse (Kap. 6) und die Entfaltung der psychischen Funktionen (Kap. 7) bis heran an den Dominanzwechsel zur gesellschaftich-historischen Entwicklung nachvollzogen. Sprachliche Vorgriffe wie Gesellschaft, Handlung, Denken etc. holen wir nunmehr inhaltlich vollständig ein, indem wir die Besonderheit des qualitativen Sprungs ausführen und anschließend die inhaltliche und funktionale Kategorialanalyse nach dem Dominanzwechsel fortführen (vgl. Abb. 23).

Die Besonderheit des zweiten Qualitätssprungs im dritten Fünfschritt besteht darin, dass es nicht mehr nur zu einem Dominanzwechsel innerhalb des umgreifenden Gesamtprozesses der Entwicklung kommt, sondern der Dominanzwechsel betrifft nun den Entwicklungsprozess selbst. Es kommt zum

»Umschlag von der Dominanz der phylogenetischen zur Dominanz der gesellschaftlich-historischen Entwicklung« (175).

Das phylogenetische Entwicklungsprinzip hebt sich auf. Das bedeutet, es bringt selbst einen neuen bestimmenden Modus der Entwicklung hervor, der die Relevanz des alten Entwicklungsprinzips vollständig in den Hintergrund verbannt. Das bedeutet nicht, dass die Phylogenese nicht mehr existieren würde, sie ist nur »faktisch bedeutungslos« (181) geworden. Der Grund dafür liegt in der im Vergleich zur Evolution um Größenordnungen schnelleren Entwicklung der Gesellschaftsgeschichte.

Folgende Angaben über Entwicklungszeiträume mögen dies illustrieren (nach neueren Daten, vgl. Wikipedia):

  • vor ca. 7 Millionen Jahren: Trennung der Hominini-Linie (Menschen und Vorfahren) von der Panini-Linie (Schimpansen und Vorfahren)
  • vor ca. 2,8 Millionen Jahren: Entstehung der Hominini-Gattung Homo
  • vor ca. 1,8 Millionen Jahren: Ausbreitung des Homo erectus (soziale Werkzeugherstellung) ausgehend von Afrika, aus dem sich u.a. der Neanderthaler in Europa entwickelte)
  • vor ca. 200.000 Jahren: Entstehung des (archaischen) Homo sapiens aus dem Homo erectus in Afrika
  • vor ca. 70.000 Jahren: Ausbreitung des Homo sapiens ausgehend von Afrika (Entwicklung »gesellschaftliche Natur« vermutlich abgeschlossen)
  • vor ca. 50.000 Jahren: parallele Existenz von Homo erectus, Neanderthaler, Homo floresiensis und Homo sapiens in Eurasien; Zusammentreffen von Homo sapiens und Neanderthaler; nur der Homo sapiens überlebt
  • vor ca. 10.000 Jahren: Beginn des kontinuierlichen gesellschaftlich-historischen Prozesses (Sesshaftwerdung im Zuge der Neolithischen Revolution)

Diese (groben) Angaben entsprechen im wesentlichen denen in der GdP. Mit Bezug auf das letzte Datum folgert Holzkamp für den Dominanzwechsel:

»Erst mit dieser gesellschaftlich-historischen Kontinuität ist der Dominanzwechsel zum gesellschaftlich-historischen Gesamtprozeß, der aufgrund des Entwicklungsstandes der evolutionär gewordenen Vergesellschaftungspotenzen schon (vielleicht 30.000 Jahre) eher möglich gewesen wäre, faktisch vollendet.« (183)

Nach den hier verwendeten neueren Daten liegt die von Holzkamp geschätzte Differenz zwischen der vollständigen Ausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen und der tatsächlich etablierten historischen Kontinuität der gesellschaftlichen Entwicklung bei etwa 60.000 Jahren (statt 30.000).

In den folgenden Kapiteln soll der zeitlich skizzierte Prozess der Durchsetzung der Gesellschaftlichkeit inhaltlich noch differenzierter dargestellt werden.

8.1 Gesellschaftliche Natur als Selektionsvorteil

Die gesellschaftliche Natur des Menschen entwickelt sich im phylogenetischen Prozess deshalb, weil sie eine biotische Spezialisierung darstellt, die einen Überlebensvorteil bietet. Holzkamp kennzeichnet diese Entwicklung allgemein als »wachsende aktive Aneignung der Natur durch verändernd-eingreifende Vergegenständlichung verallgemeinerter Zwecke der Lebensgewinnung« (176). Durch die »gegenständliche Fixierung von praktischem Veränderungswissen« (177) kann Erfahrung in gesellschaftlicher Dimension gespeichert und kumuliert werden (vgl. dazu Kap. 7.3 und Kap. 7.5).

Die sich herausbildende gesellschaftliche Produktion der Lebensbedingungen und die phylogenetische Evolution wirken in einer Übergangsphase gleichzeitig. Auf diese Weise werden alle evolutionär per Mutation und Selektion neu erworbenen natürlich-gesellschaftlichen Potenzen im Genom kumuliert:

»Der Mensch wird durch einen derartigen Kumulationsprozeß genomischer Information zum einizigen Lebewesen, das aufgrund seiner ›artspezifischen‹ biologischen Entwicklungspotenzen zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung fähig ist« (179)

Natur und Gesellschaftlichkeit sind also kein Gegensatz:

»Der Mensch gewinnt auf dem phylogenetischen Wege zur Dominanz des gesellschaftlichen Prozesses — nicht in einem metaphorischen, sondern im wörtlichen Sinne — seine ›gesellschaftliche Natur‹, d.h. natürliche Entwicklungspotenz zur Gesellschaftlichkeit« (180)

Die Übergangsphase ist dann beendet, wenn die Anpassung an die Überlebensanforderungen nicht mehr durch Mutation und Selektion passiv erfahren, sondern aktiv vorsorgend gewährleistet wird. Sobald die Herstellung der Lebensbedingungen in verallgemeinerter gesellschaftlicher Vorsorge die Entwicklung bestimmt, beginnt die gesellschaftlich-historische Progression mit eigenen innergesellschaftlichen Entwicklungsgesetzen, die allein aufgrund ihrer Dynamik den phylogenetischen Prozess bedeutungslos werden lässt und schließlich ablöst. Das Organismus-Umwelt-Verhältnis wird damit endgültig zum Mensch-Welt-Verhältnis.

Realhistorisch ist dieser Prozess mit dem Übergang »von der Okkupations- zur Produktionswirtschaft« (181f), also dem »Übergang von der bloßen … Ausbeutung vorhandener Lebensquellen … zur … geplanten Herstellung von Lebensmitteln durch Feldbau und später Viehzucht« (182) verbunden.

In den folgenden Kapitel werden die methodologischen Konsequenzen des Dominanzwechsels noch eingehender dargestellt.

8.2 Gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit

Aus dem Dominanzwechsel zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung folgt methodisch, dass die sich entwickelnde neue Qualität des Psychischen nicht mehr funktional-historisch aufgeklärt werden kann. Die Phylogenese spielt keine Rolle mehr, alle Menschen besitzen die gleiche biotische Potenz zur individuellen Vergesellschaftung. Die nun vom Menschen geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnisse sind selbst kein psychischer Sachverhalt, sie sind nurmehr die Grundlage für Entwicklung des Psychischen.

Das Individuum bekommt nun einen neuen Stellenwert. Im phylogenetischen Entwicklungsprozess war die Selbsterhaltung der Arterhaltung (Ebene der Population) untergeordnet. Untergang oder Überleben eines einzelnen Organismus hatten keinen eigenständigen funktionalen Stellenwert. Das ändert sich nun:

»Indem die Individuen beginnen, in gemeinschaftlicher Umweltverfügung ihre Lebensmittel und Lebensbedingungen selbst zu produzieren, ist hier die Existenzerhaltung der Einzelindividuen das bewußt angestrebte Ziel, das allerdings nur über Beiträge vom Einzelnen zur Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, das die je individuellen Lebensmittel und -bedingungen einschließt, erreicht werden kann.« (190)

Die »Existenzerhaltung der Einzelindividuen« als »das bewußt angetrebte Ziel« ist eine kategoriale und keine normative Aussage. Die Gesellschaft ist dazu ›da‹, damit die Einzelnen ihre Existenz sichern können — und nicht umgekehrt. Ob dies tatsächlich für alle Individuen der Fall ist, hat mit der je historisch-besonderen Verfasstheit der Gesellschaft zu tun. Historisch wurde es bisher nicht für alle Menschen gewährleistet. Potenziell gilt die Aussage gleichwohl »im Prinzip« (193) für alle Menschen, womit der Raum menschlicher Möglichkeiten abgesteckt wird: Eine Gesellschaft, in der tatsächlich alle Menschen ihre Existenz nach dem jeweils erreichten Stand der Befriedigungsmöglichkeiten der Bedürfnisse würdig erhalten können, ist realisierbar.

Damit ist angedeutet, dass auf dem neuen Entwicklungsniveau das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum nicht mehr selbstevident, sondern problematisch ist. Um die jeweilige Problematik fassen zu können, muss ein neuer Interpretationsrahmen geschaffen werden. Dieser hat folgende Elemente:

  1. Der »gesellschaftliche Mensch-Welt-Zusammenhang (ist) in den jeweils relevanten Momenten als objektiv-materielles Verhältnis gesellschaftstheoretisch« (192) zu erfassen.
  2. Von dort aus sind die veränderten »psychischen Funktionsaspekte individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeit« zu analysieren, wie sie »sich aus dem objektiven Verhältnis Individuum/gesellschaftlich-historischer Gesamtprozeß« (ebd.) ergeben.

Abb. 24: Dualistischer und dialektischer Begriff des Mensch-Gesellschaft-Verhältnisses (Klicken zum Vergrößern).

Da nun die produzierten Lebensbedingungen im Prinzip allen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung stehen, ist die Unmittelbarkeit des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher Produktion und individueller Nutzung durchbrochen. Mit der Unmittelbarkeitsdurchbrechung wird die neue Qualität des Mensch-Welt-Zusammenhangs als gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz erreicht. Die Kategorien, die den Zusammenhang zwischen gesellschaftlich-objektiven und den individuell-psychischen Bestimmungen des Mensch-Welt-Verhältnisses abbilden können, werden Vermittlungsbegriffe bzw. -kategorien genannt.

Daraus folgt eine Kritik an den Vorbegriffen der traditionellen Psychologie. Da im traditionell-psychologischen Herangehen die Welt nicht als von Menschen hergestellt und veränderbar begriffen wird, kann auch die personale Lebensführung nur als unvermittelte Aktivität in einer unmittelbar gegebenen, quasi natürlichen Umwelt aufgefasst werden: Da »die menschlich-gesellschaftliche Lebensgewinnungsform hier auf vormenschlich-organismische Weisen der Lebenserhaltung … herunterbegebracht« (194f) sei, bleibe

»… radikal unverständlich, wie Menschen mit so beschränkten Fähigkeiten, Bedürfnissen etc. in der Lage und bereit sein können, durch individuelle Beiträge zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenzsicherung mitzuschaffen, also aktiv zu werden, ohne daß die dabei angestrebten Resultate in unmittelbarem Zusammenhang mit ihren je aktuellen Lebensnotwendigkeiten und Bedürftigkeiten stehen.« (194)

Folglich wird auch das Mensch-Welt-Verhältnis nicht als umfassendes und unhintergehbares Vermittlungsverhältnis begriffen, sondern vom gesellschaftlichen Zusammenhang isolierte individuelle Menschen stehen dem abstrakten Systemgesamt ›Gesellschaft‹ unvermittelt und damit äußerlich gegenüber (vgl. Abb. 24). Das Problem einer solchen dualistischen Mensch-Welt-Sicht wird nicht dadurch ermäßigt, indem die ›Gesellschaft‹ als ›Faktor‹ einbezogen wird und insofern immerhin ›vorkommt‹, sondern durch die erneute äußerliche Gegenüberstellung reproduziert. Dies ist sogar auf Grundlage kritisch-psychologischer Termini möglich.

Die Herausforderung eines dialektischen Begriffs des Mensch-Welt-Vermittlungsverhältnisses besteht im Denken der inneren Einheit von gesellschaftlichem Menschen und menschlicher Gesellschaft: Die gesellschaftlichen Menschen sind gleichzeitig die menschliche Gesellschaft, vermittels derer sie leben, indem sie ihre Lebensbedingungen und damit sich selbst herstellen. Die Gesellschaftlichkeit ist somit Ausgangspunkt und Ergebnis des gleichen Prozesses. Die Aufgabe der kritisch-psychologischen Vermittlungsbegriffe ist es nun, diesen inneren Zusammenhang in Hinsicht auf die psychischen Dimensionen begreifbar zu machen. Dies ist nur dann zu leisten, wenn keine der vermittelten Seiten im Zuge der Konkretisierung der analytischen Begriffe ›unter den Tisch fällt‹.

8.3 Position und Lebenslage

Der neue Typ der gesellschaftlich-historischen Entwicklung zeichnet sich durch im Vergleich zur Phylogenese extrem rasche Veränderungen aus. Zwar bleibt das objektive Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das in Kap. 8.2 als gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der individuellen Existenz bestimmt wurde, grundsätzlich konstant, die inhaltlich zu bestimmende Art der gesellschaftlichen Vermittlung, die Form der Vergesellschaftung, verändert sich hingegen mit der Geschichte. Um dies in die Analyse einbeziehen zu können, werden in der GdP zwei neue Leitgesichtspunkte entwickelt, die in diesem und im nächsten Kapitel das Thema sind.

Die Lebensbedingungen werden in arbeitsteiliger Weise gesellschaftlich hergestellt. Innerhalb dieser Arbeitsteilung leistet das Individuum seine Beiträge an einer bestimmten gesellschaftlichen Position. Je nach Entwicklungsstand der Gesellschaft kann die Position verschiedenes bedeuten. Dies kann etwa der Beruf oder die Berufstätigkeit sein, aber Holzkamp betont den allgemeinen Charakter des Positionskonzepts. So sei von Positionen stets überall da zu sprechen,

»wo Möglichkeiten gegeben sind, über Beiträge zur Erhaltung oder Veränderung gesellschaftlicher Prozesse die Bedingungen der eigenen Existenz zu erhalten oder zu entfalten, das Individuum also in Realisierung der Positionen ›gesellschaftlich tätig‹ wird (auch wenn dabei die gegebenen ›Berufsfunktionen‹ nicht einschlägig sind, verallgemeiert, gesprengt oder umgangen werden)« (196f)

Dieser Hinweis soll eine ontologisierende Identifizierung von Position mit ›Beruf‹ o.dgl. vermeiden, da es neben den Berufstätigkeiten auch andere Tätigkeitsformen gibt, die der gesellschaftlichen Vorsorge dienen bzw. darauf gerichtet sind, die gesellschaftlichen Zielkonstellationen zu ändern (vgl. dazu die drei Handlungszusammenhänge in Kap. 7.6). Zudem ist historisch offen, ob die Realisierungsform ›Beruf‹ nicht auch einmal hinfällig werden kann.

Die Beteiligung an der gesellschaftlichen Herstellung der Lebensbedingungen ist jedoch nur ein Aspekt. Der gesamte Ausschnitt der Gesellschaft, mit dem das Individuum in Kontakt kommt, ist seine unmittelbare Lebenslage. Dies schließt die Position ein, geht aber darüber hinaus, indem es »alle regionalen Umstände gegenständlicher und sozialer Art im Reproduktionsbereich, unter denen das Individuum sein unmittelbares Leben führt und bewältigen muß« (197), erfasst.

Position und Lebenslage sind die konkretisierten, aber bislang noch unabhängig von der historisch-besonderen Gesellschaftsform gefassten Bestimmungen der gesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz. Im nächsten Kapitel wird dieser bislang ausgeblendete Aspekt zum Gegenstand eines weiteren Leitgesichtspunkts.

8.4 Gesellschaftsformationen

Die Art und Weise, wie die Menschen ihre Lebensbedingungen gesellschaftlich herstellen, verändert sich historisch. In der GdP wird die traditionelle marxistische Formationstheorie genutzt, um einen weiteren Leitgesichtspunkt der Analyse zu formulieren. Dabei wird die Seite des Stoffwechsels mit der Natur unter Einsatz von Arbeitsmitteln bzw. Produktionsmitteln (vgl. Kap. 7.3 und Kap. 7.6) mit dem Begriff der Produktivkraftentwicklung und die Seite der dabei eingegangenen sozialen Beziehungen mit dem Begriff der Produktionsverhältnisse gefasst.

Holzkamp stellt die entsprechenden gesellschaftstheoretischen Überlegungen in einer gerafften Übersicht in einem Exkurs dar. Die folgende noch kürzere Zusammenstellung erfolgt als Kompilation von Zitaten aus diesem Exkurs, wobei jedoch die Hervorhebungen weggelassen werden.

Die Produktionsweisen — als widersprüchliche Einheit aus Produktivkräften und Produktionsverhältnissen — entwickeln sich nach der »noch unausgeprägten urgesellschaftlichen Vorform bis an die Schwelle des Sozialismus« als »antagonistische Klassenverhältnisse« (199). Die Gesellschaft teilt sich in solche Klassen, die in den »Besitz der gesellschaftlichen Produktionsmittel« gelangt sind, und solche, die ihren Beitrag zur Existenzsicherung »zu den Bedingungen und unter dem Kommando der Produktionsmittelbesitzer« (ebd.) leisten müssen. Ein Ausbeutungsverhältnis liegt dann vor, wenn die Produktionsmittelbesitzer sich — »ohne selbst produktiv zu arbeiten« — die »von den ›Mittellosen‹ geschaffenen Lebensmittel/-bedingungen« aneignen und diesen nur den Teil zurückgeben, »der zur Reproduktion von deren Arbeitskraft« (ebd.) notwendig ist. Das bedeutet gleichzeitig die »Ausübung von Macht und Herrschaft über andere Menschen«, die nur von der »Gegenmacht der ausgebeuteten Klassen« begrenzt wird, und die nach Möglichkeit »auf die Brechung der Macht der herrschenden Klasse als Herrschaft der ›Besitzenden‹ über die ›Besitzlosen‹« (ebd.) gerichtet ist.

Die Klassenspaltung erzeugt komplementäre Partialinteressen: Dem »Interesse der herrschenden Klassen an der Aufrechterhaltung der bestehenden Machtverhältnisse« steht das »Interesse der ›beherrschten‹ Klassen … an der relativen Erweiterung der eigenen Bedingungsverfügung und Daseinsentfaltung in Einschränkung der Fremdbestimmung durch die herrschenden Klassen« gegenüber, wobei letztere darüberhinaus ein »Allgemeininteresse an der Überwindung von Verhältnissen klassenbedingter Fremdbestimmtheit überhaupt« (199f) haben.

Durch den tendenziellen Ausschluss der beherrschten Klassen von der »Verfügung über den gesellschaftlichen Gesamtprozeß« entsteht ein »Widerspruch zwischen den aufgrund der Produktivkraftentwicklung gegebenen Möglichkeiten der allgemeinen Bedingungsverfügung und Daseinsentfaltung durch wachsende bewußte Vergesellschaftung der Produktion und der historisch bestimmten Beschränkung und Fesselung dieser Möglichkeiten durch die antagonistisch-klassenbestimmten Produktionsverhältnisse« (200). Daher »ist die Überwindung der bestehenden Produktions- und Machtverhältnisse als Voraussetzung für die Realisierung der durch die Produktivkraftentwicklung und den damit gegebenen Vergesellschaftungsgrad eröffneten Möglichkeiten bewußter kollektiver Selbstbestimmung und Daseinsentfaltung ein über das Partialinteresse der beherrschten Klassen hinausgehendes allgemeines Interesse« (ebd.).

Die »antagonistischen Klassenverhältnisse [erreichen] in der bürgerlichen Gesellschaft … mit der Entwicklung der großen Industrie eine neue Größenordnung« (201). Die Produktionsverhältnisse reproduzieren sich »nicht mehr lediglich durch direkte Machtausübung der herrschenden Klassen, sondern primär durch einen bestimmten ökonomischen Regulationsprozeß auf der Grundlage der Warenform« (ebd.). Die von Subsistenzmittel enteigneten Lohnarbeiter verfügen »nur noch über ihre Arbeitskraft« und »müssen so diese Arbeitskraft in der durch universellen Warentausch regulierten Zirkulationssphäre der bürgerlichen Gesellschaft als ›Ware‹ auf dem ›Arbeitsmarkt‹ an den Kapitalisten verkaufen« (ebd.) So entsteht der »objektive Schein der ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹ von Warenbesitzern, die in einem Vertragsverhältnis Ware gegen Geld … austauschen« (ebd.). Der Arbeiter erhält dabei jedoch soviel von den »von ihm produzierten Werte … als Lohn zurück, wie dies zur Reproduktion seiner Arbeitskraft notwendig ist, der darüberhinaus produzierte ›Mehrwert‹ wird aber vom Kapitalisten unentgeltlich angeeignet und als ›Kapital‹ kumuliert« (ebd.). Der darin liegende »zentrale Widerspruch zwischen oberflächlichem Rechtsverhältnis und zugrundeliegendem Ausbeutungsverhältnis prägt sämtliche Lebensbereiche der bürgerlichen Gesellschaft« , wodurch sich der »Klassenantagonismus primär aufgrund der … ökonomischen Zwänge (zum Verkauf der Arbeitskraft etc.) im Selbstlauf reproduziert« (ebd.).

Die bürgerliche Ideologie mystifiziert die »bürgerliche Klassenrealität als allgemeine und ewige Weise menschlichen Zusammenlebens« (202). Zusammenfassender letzter Satz in diesem Exkurs (wieder mit Herv.):

»Das Partialinteresse des Kapitals an der Erhaltung seiner Macht ist so ideologisch mit dem Allgemeininteresse gleichgesetzt, und die ausgebeutete Klasse muß, soweit sie nicht nur um Verfügungserweiterung und Existenzsicherung im Rahmen des bestehenden Ausbeutungsverhältnisses, sondern um die Überwindung des Ausbeutungsverhältnisses selbst kämpft, nicht nur die entsprechende Gegenmacht entfalten, sondern auch den objektiven Schein durchdringen, daß die Erhaltung der kapitalistischen Produktionsweise als ›allgemeine‹ und ›natürliche‹ Lebensform auch in ihrem Interesse ist, so die Möglichkeit und Notwendigkeit bewußter gemeinsamer Verfügung aller Menschen über den gesellschaftlichen Prozeß als ihre Existenzbedingung erkennen.« (202)

Im nächsten Kapitel setze ich mich in einem eigenen Exkurs mit dieser hier nur zusammengefassten Sichtweise kritisch auseinander.

8.5 Exkurs: Kritik der traditionellen Klassentheorie (Teil 1)

Im vorherigen Kapitel 8.4 ist die traditionelle marxistische Formationen- und Klassentheorie, auf die sich Holkamp in der GdP bezieht, zusammengefasst. Nun sind seit dieser Zeit rund 40 Jahre ver- und mit dem Realsozialismus ein Weltsystem untergegangen, das sich genau auf jene Theorie bezogen und einen entsprechenden Weg aus dem Kapitalismus versucht hat. Viele haben aus der historischen Niederlage den Schluss gezogen, dass sich die gesamte zugrunde liegende Theorie empirisch als falsch erwiesen hat und folglich nicht mehr berücksichtigt werden kann. Andere halten hingegen weiter an den klassischen Argumentationslinien fest und bemühen sich um eine immanente Aktualisierung.

Die von mir in diesem Exkurs vorgelegte immanente Kritik beschreitet einen dritten Weg. Sie geht davon aus, dass die Ansprüche nach Überwindung von Kapitalismus, Klassenspaltung, Herrschaft und Entfremdung legitim und dass eine Form der Vergesellschaftung jenseits dessen möglich ist. Gleichzeitig erkennt sie an, dass der bisherige praktische Versuch des Realsozialismus keiner war, der ein Schritt in die Richtung der Aufhebung des Kapitalismus ging, sondern analysiert ihn als eine bürgerlich-immanente Entwicklungsvariante, die sich trotz Verfügung über die Gestaltungsmacht der wesentlichen kapitalistischen Bewegungsformen — in abgeschwächter oder verstärkter Weise — bediente: Warenproduktion, Wertgesetz, Geldvermittlung, Kapitalakkumulation, Markt, Lohnverhältnis, Staat etc. mit den entsprechenden Folgen: Entfremdung, Ressourcenerschöpfung, Umweltzerstörung, Unterdrückung, Unfreiheit u.a.m.

Die Tatsache, dass der Realsozialismus als versuchte Umsetzung eines nicht-kapitalistischen Weges untergegangen ist, verweist auf zwei Dinge. Erstens verweist es auf die historischen Grenzen der Gesellschaften, die ihre gesellschaftliche Produktion und Vermittlung auf Grundlage der Warenproduktion und des Wertgesetzes organisierten. Der Realsozialismus ist nicht untergegangen, weil er eine Alternative zur kapitalistischen Warenproduktion darstellte, sondern weil er diese in willkürlicher Weise — nämlich organisiert über Staat und Zentralplanung — umsetzte. Der Realsozialismus ist folglich nur zuerst untergegangen, ein Zerfall, der sich im neoliberalen Kapitalismus wesentlich langsamer vollzieht. Zweitens verweist das Scheitern darauf, dass eine Alternative jene von Realsozialismus und Realkapitalismus geteilten Grundlagen in die Kritik nehmen muss, und nicht jene abgeleiteten Formen, worin sich die Gesellschaften tatsächlich unterschieden. Die geteilten Grundlagen werden mithin als die wesentlichen und aufzuhebenden Grundlagen bestimmt: Warenproduktion, Wert-/Geldvermittlung, Lohnverhältnis, Kapitalakkumulation.

Die Kritik ist insofern immanent, als sie die insgesamt in der GdP begründete Notwendigkeit und Möglichkeit der kollektiven Verfügung aller Menschen über ihre Lebensbedingungen ernst nimmt. Sie ist kritisch als sie versucht, die theoretischen Defizite in der traditionellen marxistischen Argumentation aufzuzeigen und neue Argumente vorlegt. Wie sich später zeigen wird, hat dies durchaus auch Auswirkungen auf die im engeren Sinne kritisch-psychologischen Vermittlungsbegriffe.

Ausgangspunkt ist die Erfahrung, dass es nicht ›einen‹ Marxismus gibt, der sich als der authentische begründen könnte, sondern es gibt viele theoretische Strömungen, die jeweils die Richtigkeit ihrer interpretativen Sicht auf das Werk von Karl Marx vertreten. Marxismus ist also kein Kanon, sondern Marxsches Denken ist Teil des Gedankenraums des je historisch Denkbaren und insofern zeitgebunden. Die Entwicklung des Realkapitalismus ermöglichte auch neue Einsichten, die Teil der Diskussionen um die Möglichkeiten der Aufhebung des Kapitalismus und der Konstitution einer Form kommunistischer Vergesellschaftung sind.

Die aus meiner Sicht relevanten neuen Erkenntnisse in aller Kürze:

  1. Arbeit und Kapital (verstanden als Klassen) vertreten beide Partialinteressen. Diese Partialinteressen sind gegeneinander gerichtet, aber es ist nicht so, dass die Arbeiterklasse ein »Allgemeininteresse an der Überwindung von Verhältnissen klassenbedingter Fremdbestimmtheit überhaupt« (199f) repräsentiert. Diese Annahme ist zentral für den Kapitalismus überschreitende Transformationskonzepte, die der Arbeiterklasse die zentrale Rolle (historische Mission) zuschreiben. Diese Zuschreibung ist jedoch nur ein ›Sollen‹ und in diesem Sinne idealistisch, sie ist aber nicht theoretisch-logisch begründbar. Begründen lässt sich nur der Interessengegensatz, nicht aber die (Selbst-) Aufhebungsperpektive auf Basis der Interessen der Arbeiterklasse.
  2. Der Klassenkampf ist eine dem Kapitalismus immanente Bewegungsform der Austragung des Interessengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit. Dieser hatte vor allem in der fordistischen Hochzeit der warenproduzierenden Gesellschaften eine reale zivilisationsförderliche Wirkung. Diese drückte sich unter anderem durch die Existenz der realsozialistischen Staaten und des westlichen Sozialstaats aus. Deren Potenzen sind erschöpft, und es gibt objektiv keinen Weg mehr zurück zu dieser Produktionsweise.
  3. Gemeinsam geteilte Grundlage der Staat gewordenen fordistischen Entwicklungswege ist die Warenproduktion. Alle Bestimmungen der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx haben uneingeschränkt Geltung. Alle ›sozialistischen‹ Varianten der Warenproduktion haben sich in einen ›normalen‹ Kapitalismus transformiert oder sind auf dem Wege dorthin, entweder unter Änderung der politischen Herrschaftsverhältnisse (osteuropäische Länder) oder unter Beibehaltung dieser (China, Vietnam u.a.). Parallel dazu verwandelt sich der ›westliche Sozialstaat‹ in eine Exekutionsmaschine der deregulierten Verwertungslogik des Kapitals.
  4. Der vorgeblich antagonistische, tatsächlich aber immanente Interessengegensatz von Kapital und Arbeit wurde als Realgegensatz von ›Kapitalisten‹ und ›Arbeitern‹ bzw. ›Ausbeutern‹ und ›Ausgebeuteten‹ personifiziert und zur polaren Entscheidung verkürzt, wer über die gesellschaftlichen Angelegenheiten verfügt (›auf welcher Seite stehst du‹, ›die oder wir‹ etc.). Herrschaft wurde personell oder institutionell verstanden und verortet. Der Logik entsprechend standen den Herrschenden die Beherrschten gegenüber. Die Einsicht, dass Herrschende und Beherrschte nicht eindeutig personell oder institutionell zuzuordnen sind und dass es immer auch die Beherrschten sind, die sowohl beherrscht werden wie selbst Herrschaft ausüben, ist zwar auf der individualtheoretischen Ebene durch das Selbstfeindschaftskonzept thematisiert, hat auf der gesellschaftstheoretischen Ebene keine theoretische Entsprechung gefunden. Diese Divergenz ist eine Quelle der Kontroversen innerhalb der Kritischen Psychologie (dazu im zweiten Teil mehr).
  5. Da die traditionelle Klassentheorie einer Klasse die Rolle des ›historischen Subjekts‹ (die Klasse, die den Kapitalismus aufhebt) zuweist, gibt es einerseits keinen Bedarf  und andererseits auch eine notwendige Ablehnung der Frage, wie denn eine Vergesellschaftung jenseits des Kapitalismus aussehen könne. Jedes ›Auspinseln‹ einer Zukunft sei kontraproduktiv — so das insbesondere von der Kritischen Theorie entwickelte, durchaus nachvollziehbare Argument — da sonst normativ gesetzt werde, was zu geschehen habe. Die Praxis der Aufhebung entwickle sich aus den Widersprüchen und nicht durch Setzung eines Neuen. Dieses als ›Bilderverbot‹ bekannt gewordene Diktum hat lange Zeit den Blick darauf verstellt, dass die Klassentheorie, die einer Seite im Widerspruch die Lösungspotenz zuschreibt, selbst inadäquat und undialektisch ist.
  6. Mit dem Arbeit-Kapital-Antagonismus und der Arbeiterklasse als angenommenem Repräsentanten der Allgemeininteressen war lange die Frage der gesellschaftlichen Exklusionen bzw. Inklusionen institionell oder gar personell zugeordnet: Das Kapital als Verkörperung der Herrschenden repräsentiert gleichsam den Pol des Ausschlusses, während der langfristige Einschluss der Interessen aller durch die Arbeiterklasse verkörpert werde. Die lange Zeit als ›Hauptwiderspruch‹ unterzuordneten ›Nebenwidersprüche‹ wurden erst durch praktische und theoretische Interventionen verschiedener ›subalterner‹ Bewegungen (Feminismus, Antirassismus, Antisexismus, Antiziganismus etc.) zur Geltung gebracht — über Zwischenstufen (›Triple-Oppression‹) bis zur Auflösung des theoretischen Subordinationsverhältnisses (mit unterschiedlichen Konsequenzen).
  7. »Fremdbestimmung« wird nicht »durch die herrschenden Klassen« (200) ausgeübt, auch nicht durch entsprechende Instanzen. Fremdbestimmung ist kein Verhältnis zwischen Personen, Instanzen oder Klassen, sondern es ist ein gesamtgesellschaftliches Verhältnis, dem alle Gesellschaftsmitglieder unterliegen. Sie begründet sich aus dem Fetischverhältnis, welches soziale Verhältnisse als sachliche Verhältnisse erscheinen lässt, weil sich die verselbstständigte Sachlogik (der Zwang zur perpetuierten  Verwertung von Wert) gegen die Bedürfnisse der Menschen kehrt. Diesen übergreifenden ›Sachzwang‹ unterliegen alle, gleich in welcher gesellschaftlichen Position, mit welchen Partialinteressen und in welcher Lebenslage (dass sich Position und Lebenslage von Arbeitern und Kapitalisten in der Regel erheblich unterscheiden, ist evident).
  8. [Update 8.7.11, entspr. Kommentar 1 u. 2] Die gesellschaftliche Vermittlung wird zwar auch über den Interessengegensatz von Arbeit und Kapital strukturiert, aber dies ist lange nicht der einizge und auch nicht der wesentliche Interessengegensatz im Kapitalismus. Das wesentliche Merkmal ist, dass sich gesellschaftliche Vermittlung insgesamt über Interessengegensätze organisiert und zwar wesentlich über die Verwertungslogik des Kapitals als allgemeiner gesellschaftlicher Infrastruktur dieser Vermittlung. Die sich in Widersprüchen bewegende Verwertung des Werts erzeugt permanent Einschlüsse und Ausschlüsse entlang multipler Interessengegensätze, und zwar über alle Positionen hinweg und durch alle Lebenslagen hindurch. Keine Position, keine Lebenslage, kein Ort und kein Interesse ist dabei in dem Sinne privilegiert, dass darüber per se eine den Kapitalismus überschreitende Transformation möglich wäre. Herrschende und Beherrschte, um diese Terminologie aufzugreifen, gibt es damit überall, aber es gibt nicht ›die‹ Herrschenden, denen ›die‹ Beherrschten gegenüberstünden. Damit ergibt auch das »Arrangement mit den Herrschenden« (375, 377, 378, 379, 397, 398, 399, 404, 405, 406, 412, 413 etc.) nicht den intendierten Sinn, dass dabei ein Gemeinmachen mit der ganz anderen (antagonistischen) Seite stattfinden würde, sondern nur den Sinn, dass es die herrschenden Verhältnisse sind, mit denen je ich mich arrangiere, oder besser: Ich arrangiere mich mit den vielfältigen Mechanismen von Herrschaft und setze diese ein, weil ich so — im Rahmen restriktiver Handlungsfähigkeit, wie wir später sehen werden — meine Existenz durch Teilhabe an dieser Art der gesellschaftlichen Produktion der Lebensbedingungen sichern zu können glaube (einschließlich der damit verbundenen Widersprüche, die noch ausgeführt werden).

Diese grobe Skizze muss genügen. Im folgenden werde ich mich weiterhin bemühen, die in der GdP formulierte Position so gut es geht in ihrer eigenen Argumentation wiederzugeben. Erst zu einem späteren Zeitpunkt (in Kap. 12) werde ich an der Stelle, an der Holzkamp in einem weiteren Exkurs die allgemeinen gesellschaftstheoretische Aussagen in Bezug auf Lebenslage und Position konkretisiert, ebenfalls einen zweiten kritischen Exkurs einfügen.