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10. Wahrnehmung, Emotion, Motivation (Menschen)

Mit der Entwicklung der Gesellschaft als ein in sich funktionsfähiges System sind die Individuen von ihrem unmittelbaren Bezug zu den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen entlastet (vgl. Kap. 8.2). Die Entlastung und prinzipielle Möglichkeitsbeziehung zur Realität hat Konsequenzen für die psychischen Funktionen, die in diesem Kapitel in einer erneuten funktionalen Kategorialanalyse aufgeklärt werden sollen. Dazu sind einige Vorüberlegungen erforderlich.

Mit zunehmender Vergesellschaftung von Produktion und Reproduktion, also gesellschaftlicher Arbeitsteilung, wächst auch die Vermittlungsdistanz zwischen der eigenen Aktivität und der Funktion dieser Aktivität als Beitrag zur allgemeinen gesellschaftlichen Vorsorge. Mehr noch:

»Personale Handlungen, die von Operationen zur direkten vergegenständlichenden Naturaneignung bestimmt sind, stellen … keineswegs mehr die einzige oder auch nur häufigste Form der individuellen Teilhabe an gesellschaftlicher Lebensgewinnung dar. Vielmehr bilden sich mit der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz auch durch die arbeitsteilige Organisation bedingte vielfältige Formen von individuellen Beitragen heraus, die nur auf mehr oder weniger vermittelte Weise mit dem gesellschaftlichen Naturaneignungsprozess zusammenhängen« (308)

Kurz: Nicht nur Arbeitshandlungen sind Beiträge zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung, sondern generell alle Tätigkeiten, die Handlungsmöglichkeiten realisieren und sowohl produktive wie sinnlich-vitale Bedürfnisse befriedigen:

»Gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten … dürfen … keinesfalls als begrenzt auf die bloß ›physische‹ Seite der Lebenssicherung o.ä. missdeutet werden, sondern umfassen all[e] … Befriedigungs- und Erfüllungsmöglichkeiten … einschließlich ›geistig‹, ästhetisch, künstlerisch verdichteter und überhöhter produktiv-sinnlicher Erfahrungsmöglichkeiten. Die Realisierung all solcher Lebensmöglichkeiten auf dem jeweiligen historischen Entwicklungsstand ist für den Menschen im allerengsten Sinne existenznotwendig und jede Einschränkung und Unterdrückung dieser Realisierung im allerengsten Sinne unmenschlich.« (309f)

Damit wird auch klar, dass eine Trennung von Bedürfnissen in solche, die nur auf die »Befriedigung unmittelbarer Notdurft« gerichtet sind, und solche, die auf alle »gesellschaftlich möglichen Genüsse und Erfüllungen« (310) abzielen, nur den realen Ausschluss von Genussmöglichkeiten legitimiert, auf keine Weise aber kategorial gerechtfertigt werden kann. Der Slogan ›Alles für alle‹ ist somit nicht utopische Forderung, sondern allein Einforderung des Menschenmöglichen und Existenznotwendigen.

10.1 Wahrnehmung

Die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der individuellen Existenz bedeutet eine Auflösung des unmittelbaren Zusammenhangs von kollektiver Produktion und individueller Nutzung von Lebensbedingungen. Diese so genannte Unmittelbarkeitsdurchbrechung (vgl. Kap. 8.2) betrifft in einem erweiterten Sinne auch den Zusammenhang von Handlungen und Operationen. Vom Handlungsziel her gesehen sind die ausgeführten Operationen nurmehr  »verschwindendes Moment« (311) und u.U. sogar austauschbar in dem Maße wie die gesellschaftlichen Möglichkeiten zur Erreichung des Handlungsziels wachsen. Das Auseinandertreten von Handlungen und Operationen veranschaulicht Holzkamp am Beispiel des Verfassens eines Gedichtes:

»In den gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhängen des Gedichts ist die stofflich-sinnliche Operation des Schreibens als sekundär-automatisiertes Hinterlassen von Schriftspuren mittels Bleistift oder Schreibmaschine auf Papier als besondere Bestimmung nicht enthalten, da man mit der gleichen Operation ja auch Küchenzettel anfertigen oder den Stromverbrauch notieren kann. Umgekehrt erfährt man aus der Analyse der Schreiboperation schlechterdings nichts über auf diese Weise entstandene ›Gedichte‹ im allgemeinen oder ein gerade vorliegendes Gedicht im besonderen. Demgemäß ist die Schreiboperation hier im Handlungszusammenhang ersetzbar: Man muss das Gedicht ja nicht ›aufschreiben‹, man kann es auch mündlich weitergeben, auf Tonband sprechen, oder einfach für sich behalten.« (311)

Damit verändert sich auch die Wahrnehmung. Analog zum Herabsinken der Operationen zum verschwindenden Moment der Handlungen, »wird auch die perzeptive‹ Seite der Perzeptions-Operations-Koordination … gegenüber der symbolischen Bedeutungserfassung … ›zum verschwindenden Moment‹«. Das dafür verwendete Beispiel ist das Lesen:

»So erfasse ich … beim Lesen eines Buches den darin symbolisch vermittelten Bedeutungsgehalt ›direkt‹, ohne bewußte ›Wahrnehmung‹ der stofflichen, figural-qualitativen Eigenart der Buchstaben (…) Die perzeptiv-operative Ebene des Erkenntnisvorgangs wird mir nur dann als solche bewußt, wenn dadurch die symbolische Bedeutungserfassung gestört ist, etwa wenn ich die falsche Brille aufhabe…: erst jetzt merke ich, dass da auf der Buchseite ›lauter kleine schwarze Dingen sind, und ›verhalte‹ mich nun zur ›Schrift‹ … wie zu einem nichtsymbolischen gegenständlichen Bedeutungsträger« (313)

Holzkamp macht nun darauf aufmerksam, dass Symbole diskursiver und bildlich-ikonischer Art sein können. Diskursive Symbole sind sprachliche Symbolbedeutungen, deren sinnliche Hülle unspezifisch, austauschbar und somit verschwindendes Moment ist — wie oben am Beispiel dargestellt (vgl. dazu auch Kap. 9.1). Bildlich-ikonische Symbole sind Kunstwerke, bei denen die sinnliche Hülle den Bedeutungen nicht äußerlich ist, sondern die Bedeutungen sind. Kunstwerke würden »sinnlich-emotionale Erfahrungen der gesellschaftlichen Menschheit … unmittelbar« (ebd.) ausdrücken. Selbstkritisch merkt Holzkamp an:

»›Wahrnehmung‹ kann offenbar ›sinnliche Erkenntnis‹ in einer Bedeutung des Wortes sein, die in meinem gleichnamigen Buch total herausgefallen ist.« (314)

Insgesamt wird die angerissene Diskussion über die Bedeutungs- und Wahrnehmungsqualitäten von Kunst als offene Forschungsfrage angesehen.

10.2 Denken und Emotionalität

Die gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen als objektiver Handlungszusammenhang enthalten, was gesellschaftlich-durchschnittlich gedacht werden muss, aber auch, was bisher gedacht worden ist. Die gesellschaftlichen Denkformen besitzen einen überindividuellen, selbstreferenziellen Charakter und somit eine relative Selbstständigkeit. Aus Sicht des Individuums wiederum sind die gesellschaftlichen Denkformen mit den darin eingeschlossenen Denknotwendigkeiten nur Denkmöglichkeiten, zu denen sich das Individuum bewusst verhalten kann.

Mit der Möglichkeitsbeziehung zur Realität ist die Lebensgewinnung von einem selbstevidenten zu einem probematischen Prozess geworden. Das gilt sich auch für das in Kap. 7.6 dargestellte Denken von Handlungszusammenhängen. Der Zusammenhang von notwendigem Stoffwechsel mit der Natur (1), Arbeitsteilung/-organisation und individuellem Beitrag (2) und individueller Existenzsicherung (3) stellt sich ›von selbst‹ her, ohne dass das Individuum den Zusammenhang denken muss. Es kann ihn auch bestreiten oder ignorieren, ganz oder teilweise, es kann sich etwa »zu gesellschaftlich geschaffenen Bedingungen wie zu Naturbedingungen ›verhalten‹« (317) oder sich Denkzusammenhänge »nur partiell bzw. in vielerlei ›angeschnittenen‹, verkürzten, mystifizierten Weisen« (ebd.) aneignen.

Die emotionale Befindlichkeit als Wertungsseite des Denkens und Erkennens verändert sich nun ebenfalls, da die emotionale Handlungsbereitschaft dem Individuum nicht mehr unmittelbar gegeben, sondern ebenfalls problematisch ist:

»Die emotionale Gesamtwertung ergibt sich also nicht mehr, wie noch im ›kooperativen‹ Stadium, unmittelbar aus der evidenten Bedeutung der sachlich-sozialen Weltbezüge des Individuums für seine eigene Existenzsicherung und Bedürfnisbefriedigung. Das Individuum ›schiebt‹ sich vielmehr in ›bewußtem Verhalten‹ zwischen seine emotionale Befindlichkeit und seine Handlungen, indem es wie die Bedeutungen als objektive Handlungsmöglichkeiten auch seine eigene emotionale Handlungsbereitschaft als bloße subjektive Handlungsmöglichkeit … erfasst.« (318)

Die Wertungs- und Mittlerfunktion der Emotionalität kann vom Individuum nun also »bewußt als ›Mittel‹ seines Denkens eingesetzt« (319) werden. Aus der orientierungsleitenden Funktion (vgl. Kap. 3.5) wird die »erkenntnisleitende Funktion der Emotionalität« (333). Emotionen und Denken sind also nicht getrennt, sondern wechselseitig aufeinander bezogen und durchdrungen. Einerseits

»können die emotionalen Momente des Gedachten … eine besondere Funktion gewinnen, indem sie … das Denken in einer Weise ausrichten, durch welche aus allem Denkbaren das für das betroffene (individuelle oder verallgemeinerte) Subjekt wirklich Wichtige und Klärungswürdige sich zu allererst heraushebt, und so der analytische Denkprozess sein bestimmtes Thema gewinnt.« (319f)

Andererseits durchbricht das denkende, bewusste Verhalten zu den eigenen Emotionen die »›Unmittelbarkeit‹ des Verhältnisses zwischen Bedürfnissen und Handlungen« (318). Die Emotionen geben je mir Aufschluss über meinen Weltbezug, der jedoch im Einzelnen — weil problematisch — erst aufzuklären ist, aber auch aufgeklärt werden kann. Für die weitere Konkretisierung der Analyse besteht damit die Notwendigkeit, dass die

»kategorialen Bestimmungen so konkretisiert werden, dass die mit der Möglichkeitsbeziehung zur eigenen Emotionalität entstehenden vielfältig selegierten, verkürzten, mystifizierten Formen des Zustandekommens und der Eigenart emotionaler Befindlichkeiten und Handlungsbereitschaften gegenüber gesellschaftlichen Bedeutungskonstellationen faßbar werden.« (320)

Das wird die Aufgabe für die Kapitel 11 und 12 sein.

10.3 Motivation und Zwang

Abb. 22: Die drei Bedingungen der Motivation (Klicken zum Vergrößern).

So wie Denken und Emotionalität (vgl. Kap. 10.2) ist auch die Motivation unter den Bedingungen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz nicht mehr selbstevident, sondern problematisch. Zur Rekapitulation seien die drei Bedingungen der Motivation (inkl. Abb. 22) hier noch einmal wiedergegeben:

  1. Der Beitrag zur gesellschaftlichen Vorsorge und die eigene Existenzsicherung hängen tatsächlich zusammen,
  2. der Zusammenhang ist gesellschaftlich denkbar,
  3. der Zusammenhang wird vom Individuum gedacht.

Die Motivationsbedingungen können nun unabhängig voneinander gegeben sein oder fehlen. Tatsächliche Zusammenhänge können unsichtbar bleiben, nicht bestehende Zusammenhänge können ideologisch vorgetäuscht sein, das Individuum kann einem Schein aufsitzen, statt Erweiterung kann real eine Einschränkung der Lebensqualität mit der Handlung verbunden sein etc.

Durch das Auseinandertreten von gesellschaftlichen Zielkonstellationen und individuellen Handlungen, also mit

»prinzipiellen Möglichkeitsbeziehung der Menschen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen [liegt] kein einfaches Determinationsverhältnis vor, durch welches das Individuum beim Bestehen der genannten Motivationsvoraussetzungen alternativlos motiviert handeln muß. Ich kann mich auch zu meiner eigenen Zusammenhangseinsicht wiederum ›bewußt verhalten‹, und dabei zu der Entscheidung kommen, für ›mich persönlich‹ das Ziel nicht zu übernehmen, obwohl seine Realisierung in meinem verallgemeinerten Interesse ist, also quasi vor mir selbst und/oder anderen ›Ausnahmebedingungen‹ zu reklamieren« (322)

Der Charakter von Handlungszielen als gesellschaftlichen Zielen im objektiven Handlungszusammenhang ist damit nicht zurückgenommen:

»Auch wenn ich die ›Freiheit‹ habe, ein gesellschaftliches Ziel individuell zu übernehmen oder zurückzuweisen, so bleibt das übernommene wie zurückgewiesene Ziel immer noch ein Handlungsziel, das als solches seinen Inhalt und Stellenwert aus dem gesellschaftlichen Lebensgewinnungs-Zusammenhang erhält, und man hat, ob man dies will und sieht oder nicht, mit der Übernahme wie mit der Zurückweisung des Handlungsziels eine in verallgemeinerter Weise für andere relevante Entscheidung getroffen und damit (wie marginal auch immer) seine eigenen Lebensmöglichkeiten verändert«

Umgekehrt gilt nun auch, dass bei Nichtvorliegen der Motivationsbedingungen es trotzdem zu Handlungen kommen kann. Aufgrund von gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen kann das Individuum

»gesellschaftliche Ziele … übernehmen, die im herrschenden Partialinteresse und somit nicht im allgemeinen Interesse an der Verfügungserweiterung und Erhöhung der Lebensqualität der Individuen (deren ›Fall‹ ich bin) liegen, mithin nicht ›motiviert‹, sondern unter ›Zwang‹ … handeln«.

Der früher geschilderte Motivationswiderspruch zwischen zukünftiger Lebensqualität und den Anstrengungen und Risiken auf dem Weg dorthin verändert sich damit. Unter Zwang können die Anstrengungen/Risiken nun auf sich genommen werden, obwohl diese emotional nicht gedeckt sind, also keine verbesserte Lebensqualität versprechen. Was bei motiviertem Handeln ein Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung zugunsten besserer Möglichkeiten in der Zukunft ist, verselbstständigt sich bei erzwungenem Handeln als Selbstdisziplinierung und Druckausübung gegen sich selbst. Das wird als Willentlichkeit bezeichnet.

Die Willentlichkeit — sich selbst aus Not zu Handlungen zu zwingen — wird in Kap. 12.5 unter dem Begriff der Selbstfeindschaft ausführlicher diskkutiert.

10.4 Kooperation und Interaktion

Mit der Dominanz der gesellschaftlich-historischen Entwicklung ist auch der interpersonale Aspekt der Handlungsfähigkeit genauer zu fassen. In der noch überschaubaren Sozialkooperation vor dem Dominanzwechsel war die direkte Kooperation zwischen den Individuen die bestimmende Beziehungsform. Das ändert sich mit dem Dominanzwechsel, da nun die Gesellschaft ein in sich erhaltungsfähiges Kooperationssystem ist. Damit müssen wir nun

»unterscheiden zwischen gesamtgesellschaftlicher Kooperation als Wesensbestimmung der menschlichen Lebensgewinnungsform überhaupt und Kooperation auf Handlungsebene als interpersonalem Prozeß zwischen Individuen.« (325)

Abb. 26: Kooperation und Interaktion auf Handlungs- und Operationsebene.

Gesamtgesellschaftliche Kooperation ist eine gesellschaftstheoretische und interpersonale Kooperation eine individualtheoretische Kategorie (vgl. im folgenden Abb. 26). Die interpersonale Kooperation ist dabei »keineswegs notwendig von wechselseitiger räumlich-sinnlicher Anwesenheit füreinander abhängig« (327), sondern auch die

»interpersonale Form der Kooperation steht … in gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen und ist durch die Beziehung der Individuen über die Realisierung gemeinsamer gesellschaftlicher Ziele charakterisiert, nicht durch das unmittelbare Zusammenwirken.« (326f)

Von »mannigfach symbolisch vermittelte(n) Formen der Kooperation« (327) werden nun noch einmal die Formen des direkten kooperativen Zusammenwirkens abgehoben und als unmittelbare Kooperation bezeichnet (360f). Die unmittelbare Kooperation in räumlich-sinnlicher Präsenz ist mithin die interpersonale Kooperation in je meiner Lebenslage (vgl. Kap. 8.3), wie sie mir als Ausschnitt des gesamtgesellschaftlichen Kooperationszusammenhangs unmittelbar gegeben ist.

Auf der Handlungsebene sind jedoch nicht alles Kooperationsbeziehungen, da die Individuen aufgrund der Möglichkeitsbeziehung zur Realität nicht notwendigerweise kooperieren müssen. Nicht-kooperative Beziehungen auf der Handlungsebene werden interaktive Beziehungen genannt. Dabei werden primär-interaktive (sexuelle, familiale etc.) von sekundär-interaktiven (bekanntschaftlichen etc.) Beziehungen unterschieden (360).

Die früher eingeführte Unterscheidung von Handlungen und Operationen (vgl. Kap. 7.4) ist nun in diesem Kontext auszuweiten. Sowohl kooperative wie interaktive Beziehungen besitzen eine Unterebene der »interindividuellen Regulationssteuerung von Operationen« (327). Auch in interaktiven Beziehungen spielt also die (inter-)indivduell-antizipatorische Koordination von Aktivitäten eine Rolle.

Holzkamp weist an dieser Stelle darauf hin, dass die kategorialen Differenzierungen analytische Mittel sind, um Situationen zu untersuchen, in denen die Beziehungsformen tatsächlich nicht getrennt vorliegen. Die Trennung ist also ein analytischer Akt zum Zweck der Gewinnung größerer Klarheit und nicht Fassung getrennt vorliegender Sachverhalte.

Auch bei interpersonaler Vereinzelung — relativ zur interpersonalen Kooperation wie auch zu interaktiven Beziehungen — ist damit »keineswegs eine gesellschaftliche Vereinzelung verbunden« (328), da die individuelle Existenz im gesellschaftlichen Gesamt prinzipiell mitgesichert ist und somit zu anderen Menschen — wie vermittelt auch immer — in Beziehung steht. Die relative Vereinzelung ist also eine Handlungsmöglichkeit auf der Ebene der Beziehungen. Aufgrund der reziprok-reflexiven Perspektivenverschränkung (vgl. Kap. 9.3) ergibt sich die besondere Problematik interpersonaler Beziehungen:

»Indem ich in reflexiver ›Sozialintentionalität‹ den anderen als ›Subjekt‹ gleich mir erfahre, kann mir mithin in meiner Beziehung zu ihm gleichzeitig auch dessen Beziehung zu mir, genauer: das Verhältnis der direkten und der reflexiv erfaßten ›Perspektive‹ der Beziehung problematisch werden: Wie ›verhält‹ sich die Bedeutung, die der andere für mich hat, zu der Bedeutung, die ich für ihn habe? Wie ›verhalten‹ sich die Gründe, die ich dafür habe, die Beziehung einzugehen oder aufrechtzuerhalten, zu den respektiven Gründen des anderen?« (329)

Die Illustation der Probleme ließe sich fortsetzen. Aufgabe der Subjektwissenschaft ist es, die Problematiken samt ihrer Widersprüche, Beschränkungen, Zwängen und Möglichkeiten durchdringbar zu machen, also »die objektiven Bedingungen offenzulegen, die zur Veränderung der interpersonalen Beziehungen im Interesse der Betroffenen geändert werden müssen« (330).

Geht es darum, den gesellschaftlichen Kooperationszusammenhang insgesamt zu ändern, so vertritt Holzkamp die These, dass dies nur möglich ist, wenn »die Macht der Individuen auch selbst eine gesellschaftlich-historische Größenordnung« (331) erreicht. Da dies nicht durch Teilhabe an den bestehenden Kooperationsstrukturen zu erreichen sei, bliebe nur »der kooperative Zusammenschluss der Individuen auf interpersonaler Ebene, also quasi die Aktualisierung gesellschaftlicher Integration zu kooperativer Integration« (ebd.). Die These wird später noch einmal aufgegriffen und ausgebaut.

nur der kooperative Zusammenschluss der Individuen auf interpersonaler Ebene, also quasi die Aktualisierung gesellschaftlicher Integration zu kooperativer Integration

10.5 Individuelle Geschichte und Lebensperspektive

Die Möglichkeitsbeziehung und das bewusste Verhalten zu den Verhältnissen betrifft nicht nur alle Bedingungen außerhalb des Individuums, sondern auch das Individuum selbst. Es kann sich sowohl zu den äußeren Bedingungen wie auch zu sich selbst, der eigenen Gewordenheit und den eigenen Fähigkeiten bewusst ins Verhältnis setzen. Die Handlungsmöglichkeiten sind dabei durch das Spannungsfeld von Potenzialität und Faktizität gekennzeichnet:

»›Potentialität‹ als Inbegriff der dem Individuum in ›erster Person‹, also in bewußtem Verhalten, gegebenen Handlungsmöglichkeiten und ›Faktizität‹ als Inbegriff der Art und des Ausmaßes der gegenüber der bewussten Verfügung widerständigen ›Vorgänge dritter Person‹, durch welche die Handlungsmöglichkeiten des Individuums determiniert und begrenzt sind.«

Das Spannungverhältnis von Potenzen und Fakten bestimmt nun sowohl das Erleben einer gegebenen Situation wie das der eigenen Person. Die situationale Befindlichkeit (oder: Situation) ist bestimmt durch die subjektiv erfahrenen (wahrgenommenen, emotional bewerteten) Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen. Die personale Befindlichkeit betrifft den eigenen Entwicklungsstand von Fähigkeiten, Wissen, Können, Bedürfnissen und emotionale Wertungen etc. in der Weise, wie er vom Individuum in bewusstem Verhalten zu sich selbst erfahren wird.

Als dritte Dimension ist nun noch die Zeit einzubeziehen, da es sich um einen individualgeschichtlichen Prozess handelt, der »durch die Erfahrung der eigenen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit charakterisiert« (336) ist:

»Meine eigene Vergangenheit ist mir gegeben als gekennzeichnet durch frühere Möglichkeiten, deren Realisierung oder deren ›Verpasst-Haben‹, sowie durch die Möglichkeiten einschränkende ›unverfügbare‹ Fakten, denen ich ausgeliefert war, dies sowohl mit Bezug auf meine früheren Lebensbedingungen … wie auch auf meine eigene Befindlichkeit, meine Fähigkeiten, meine Absichten und Pläne etc., wobei auch die emotionale Seite der früheren Möglichkeiten und deren Beschränkungen zur Erfahrung meiner eigenen Vergangenheit gehört.« (336f)

Die so erfahrende Phänomenalbiographie ist jedoch stets nur Ausschnitt der Realbiographie, also den tatsächlichen biographischen Verhältnissen in der Vergangenheit. Sowohl Phänomenalbiographie wie auch ihr Verhältnis zur Realbiographie sind nicht statisch, sondern verändern sich in dem Maße, wie ich mich bewusst dazu ins Verhältnis setze, was ich wiederum später problematisieren kann etc. Das Spannungsverhältnis zwischen Phänomenal- und Realbiographie ist nicht aufhebbar, es handelt sich um einen permanenten Prozess der Interpretation und Deutung vom jeweils neu gewonnenen Standort der subjektiven Befindlichkeit.

Die rückwärtsgerichtete Zeitdimension der Biographie ist nun eng verbunden mit der zukunftsbezogenen Lebensperspektive, da

»gemäß der allgemeinen ›Möglichkeitsbeziehung‹ das, was ›aus mir geworden ist‹, immer (in mehr oder weniger großen Anteilen) auch einschließt, was ›ich aus mir gemacht habe‹, und dementsprechend das, was ›aus mir werden wird‹, ein Teilproblem der Frage ist, was ich zukünftig ›aus mir machen‹ kann.« (340)

Zusammenfassend:

»Es ist … das wesentliche Kennzeichen der Befindlichkeit der Menschen unter gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen, dass ihre ›Zukunft‹ eine entscheidende Qualifikation ihrer ›Gegenwart‹ ist.« (341)