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14. Forschung und Mitforschung

Abb. 1: Die vier theoretischen Bezugsebenen der Kritischen Psychologie mit dem Schwerpunkt der funktional-historischen Kategorialanalyse.

In diesem Kapitel geht es um die Aktualempirie und ihre Methoden — allerdings nicht um diese selbst, sondern um die Methodologie als Metafrage darum, wie aktualempirische Methoden angesichts konkreter ›Fälle‹ entwickelt werden können.

Aktualempirische Forschung ist auf einzelne Theorien bezogen, die wiederum eine kategoriale Grundlage besitzen. Zur Erinnerung seien die vier Bezugsebenen der Kritischen Psychologie (Abb. 1) in Erinnerung gerufen. Mit den Kategorien entscheidet sich, was wir mit auf der Grundlage von auf Einzeltheorien formulierten aktualempirischen Methoden von einem Gegenstand zu Gesicht bekommen können und was nicht. Die Kategorien betreffen somit zwei Seiten des Forschungsprozesses: die einzeltheoretisch-inhaltliche und die aktualempirisch-methodische Seite.

Oder in den Worten von Klaus Holzkamp:

»Wir fragen … jetzt nach den methodologischen Prinzipien für die Entwicklung von Methoden aktualempirischer psychologischer Forschung, die sich aus dem Zusammenhang der von uns herausgearbeiteten subjektwissenschaftlichen Kategorialbestimmungen … ergeben.« (510)

14.1 Kategorien und Theorien

Abb. 30: Kategorien und (Einzel-) Theorien im Forschungsprozess

Kategorien und Theorien besitzen jeweils ein eigenständiges empirisches Fundament. Sie beziehen sich beide auf verschiedene Seiten des gemeinsamen Forschungsgegenstands — hier auf die psychische Lebenstätigkeit des gesellschaftlichen Individuums (vgl. die schematische Skizze in Abb. 30).

Die historisch-empirische Kategorialanalyse wurde als funktional-historische Rekonstruktion der Entstehung und Differenzierung des Psychischen — bis hin zum Menschen im Kapitalismus — geleistet. Die gewonnenen Grundbegriffe, die Kategorien, sind damit schon als solche »›realitätshaltig‹, haben also einen eigenständigen subjektwissenschaftlichen Erkenntniswert innerhalb der Psychologie« (511). Sie machen inhaltlich-fundierte Strukturaussagen, etwa die der doppelten Möglichkeit: unter Akzeptanz der gegebenen Bedingungen zu handeln oder Einfluss auf die Bedingungen zu erlangen, um die Handlungsmöglichkeiten zu erweitern (vgl. Kap. 11.3). Welche der Handlungsrichtungen eingeschlagen wird, welche Widersprüche, Möglichkeiten und Beschränkungen sich dabei ergeben, kann dann allerdings nur aktualempirisch erforscht werden. Allgemeine Strukturaussagen lassen sich nicht auf den Einzelfall herunterkonkretisieren. Kategorien sind analytische Bestimmungen, die den erkennenden Zugriff auf die Lebenswelt strukturieren.

Auf der Grundlage der Kategorien werden (u.U. widerstreitende) Theorien entwickelt, um den wirklichen Erscheinungsreichtum des vorliegenden Einzelfalls mit Hilfe von aktualempirischen Methoden zu erschließen. Die Theorien werden — idealerweise — in verallgemeinernden (Theorie-) Begriffen formuliert, während die konkreten Ergebnisse der Aktualempirie so genau wie möglich in Beschreibungsbegriffen erfasst werden.

Zwischen Kategorien und Theorien besteht kein Deduktionsverhältnis. Weder können Theorien aus Kategorien abgeleitet, noch umgekehrt Theorien durch Abstraktifizierung zu Kategorien verdichtet werden. Kategorien setzen den inhaltlich qualifizierten Rahmen — den »Gegenstand, seine Abgrenzung nach außen, sein Wesen, seine innere Struktur« (27) — für die Formulierung von Theorien, die Entwicklung von Methoden und die Interpretation von Ergebnissen (Abb. 30: Pfeil mit durchgezogener Line). Scheitern Theorien bei ihrer empirischen Überprüfung, so kann dies auch ein Hinweis auf die Unangemessenheit der kategorialen Grundlage sein (Abb. 30: Pfeil mit gepunkteter Linie). Das kann jedoch wiederum nur kategorialanalytisch überprüft werden.

Wenn auch Methoden durch die Kategorien inhaltlich vorstrukturiert sind, bedeutet das, dass Methoden keinen neutralen Status besitzen (können), sondern mit ihnen vorgegeben ist, was am Forschungsgegenstand sichtbar gemacht werden kann und was systematisch — methodisch — verschleiert wird. Der notwendige inhaltliche Zusammenhang von Kategorien und Methoden ist der Ausgangspunkt für die umfängliche Methodenkritik an der traditionellen Psychologie.

14.2 Traditionelle Psychologie

Abb. 31: Empirie-Konzept der traditionellen Psychologie

Im Gegensatz zur Kritischen Psychologie vertritt die traditionelle Psychologie, v.a. in ihrer experimentell-statistischen Ausprägung, ein anderes Empirie-Konzept (vgl. Abb. 31). Auf Grundlage von Theorien und Definitionen formuliert sie bestimmte Zusammenhangsannahmen, die sie mittels — vorgeblich »neutraler« — Methoden experimentell untersucht. Sie selbst wähnt sich damit außerhalb des zu untersuchenden Forschungsgegenstands und der ihn betreffenden Lebenswelt.

Diese empirisch-experimentelle Anordnung hat die traditionelle Psychologie den Naturwissenschaften entliehen. Sie operationalisiert damit ein Variablen-Schema, nach dem ein als Funktion formulierter Zusammenhang zwischen unabhängigen und durch sie erzeugten abhängigen Variablen besteht, der im Experiment getestet wird. Dabei ist unerheblich, ob der funktionale Zusammenhang behavioristisch als Reiz-Reaktion oder kognitivistisch als Input-Output (Eingabe-Ausgabe) gefasst wird. Es handelt sich stets um einen deterministischen Zusammenhang von Bedingungen (Reiz, Input), die als Ursachen eine Wirkung, das Verhalten (Reaktion, Output), erzeugen.

Mittels experimenteller Anordnung und statistischen Verfahren werden ggf. störende Einflüsse ausgeblendet, das Ergebnis vereindeutigt und auf diese Weise die messtheoretischen Gütekriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität erfüllt. Es wird angenommen, dass mit den messtheoretischen Gütekriterien gleichzeitig die psychodiagnostische Aussagekraft gegeben ist. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Gütekriterien zielen nur auf den Zusammenhang von Experiment und gewonnenen Daten, ein Schluss auf eine psychodiagnostische Aussage ist nicht zulässig.

Die variablen-schematisch formulierten und experimentell-statistisch durchgeführten Untersuchungen besitzen »echte wissenschaftliche Rationalität« (528), doch worauf bezieht sich diese? Sie kann sich nicht auf die psychischen Aspekte menschlicher Aktivitäten beziehen, denn dazu werden zu viele menschlich-spezifische Dimensionen durch die Anordnung wegabstrahiert:

  • die Subjektivität und der Standpunkt erster Person
  • die Intersubjektivität und soziale Selbstverständigung
  • die Möglichkeit, sich bewusst zu den Bedingungen zu verhalten
  • die Qualität gesellschaftlicher Kooperation und die individuelle Teilhabe daran
  • die kapitalistische Infrastruktur in der jeweiligen Lebenslage/Position usw.

Stattdessen haben Zusammenhangsaussagen über den Menschen »den Charakter einer abstrakt-unhistorischen Allgemeinheit: ›Menschen‹ bzw. ›Organismen‹ überhaupt verhalten sich unter den und den Bedingungen so und so« (43):

»Die ›Bedingungen‹ erscheinen dabei prinzipiell als (durch den Forscher) gesetzt und das Individuum als unter den so fremdgesetzten Bedingungen handelnd. (…) Man kann hier die Planung/Auswertung von Untersuchungen gemäß den geschilderten immanent bestimmten Exaktheitskriterien gar nicht anders realisieren als dadurch, daß man die Versuchspersonen nach den daraus sich ergebenden Verfahrensregeln ›unter Bedingungen‹ (›Treatments‹) stellt und ihre dadurch bedingten Aktivitäten registriert.« (529)

Holzkamp kommt zu dem Schluss, dass dem experimentell-statistischen Verfahren »nicht primär ideologische Beschränktheit, sondern wissenschaftliches Erkenntnisinteresse … zugrundeliegt, aber ein Erkenntnisinteresse, das sich aufgrund der Struktur dieses Verfahrens im Resultat selbst widerspricht« (528). Mögliche Ursachen dieses immanenten Widerspruchs werden im nächsten Kapitel diskutiert.

Das Fremdsetzen der Bedingungen vom Standpunkt außerhalb im experimentellen Setting entspricht strukturell den Bedingungen der Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft. Die traditionelle Psychologie sei wegen der »Identität des wissenschaftlichen Standpunkts mit dem Standpunkt der ›Kontrollierenden‹ gegen die ›Kontrollierten‹« daher »mit struktureller Notwendigkeit« (530) parteilich. Holzkamp warnt allerdings vor einer einfachen Umkehrung:

»Die geschilderte strukturelle Parteilichkeit der Variablenpsychologie ist auch dadurch nicht zu neutralisieren, daß man sie … – aufgrund des nicht voll überwundenen Missverständnisses von wissenschaftlichen Methoden als ›neutralen‹ Instrumenten, die jedem Interesse dienen können – radikal in den Dienst fortschrittlicher Zielsetzungen und Fragestellungen nehmen will.«

Holzkamp schließt, dass sich die traditionelle Psychologie als Kontrollwissenschaft mit der »Universalisierung des ›Standpunkts außerhalb‹, damit der Abhängigkeit der Menschen von fremdgesetzten Bedingungen« und die »›subjektwissenschaftlichen‹ Verfahren vom Standpunkt des Subjekts bzw. der Intersubjektivität … konträr gegenüberstehen« (532).

14.3 Gegenstandsadäquatheit

Abb. 32: Kategorial- und Empiriebezug theoretischer Konzepte.

Es handelt sich um ein Selbstmissverständnis, wenn die Variablen-Psychologie meint, sich mit ihren experimentell-statistischen Methoden auf neutralem Boden zu befinden und ihren Gegenstand, die psychische Lebenstätigkeit, unparteiisch untersuchen (vgl. Kap. 14.2). Tatsächlich ist in den verwendeten Konzepten, Theorien oder Definitionen und somit auch der Festlegung der »Variablen« neben dem Empiriebezug ein nicht ausgeführter Kategorialbezug enthalten (vgl. Abb. 32).

Der Kategorialbezug legt — implizit oder explizit — fest, was erforscht werden soll, wie also der Forschungsgegenstand inhaltlich bestimmt und gegliedert ist. Erst wenn klar ist, womit es die Forschung zu tun hat, kann sinnvoll entschieden werden, wie der so bestimmte Gegenstand untersucht werden kann.

Der Empiriebezug ist der durch den Kategorialbezug strukturierte forschende Zugang zu den vielfältigen wirklichen Erscheinungen. Auf Grundlage eines kategorialen Systems sind unterschiedliche Theorien formulierbar, denn Theorien lassen sich nicht logisch aus Kategorien ableiten (vgl. Kap. 14.1).

Der Kategorialbezug selbst kann empirisch weder bestätigt, noch widerlegt werden, er ist der Empirie vorausgesetzt. Das bedeutet umgekehrt, dass Methoden keineswegs neutral sind, sondern in dem methodischen Herangehen ist bereits eingeschlossen, wie der Gegenstand theoretisch und damit auch implizit kategorial gefasst wurde.

Wenn also etwa ›Lernen‹ als Effekt einer ›Verstärkung‹ definiert wird, so wird damit ein inhaltlicher Zusammenhang formuliert, der einem möglichen Experiment vorausgeht und dieses strukturiert. Im Experiment selbst ist nicht entscheidbar, ob man etwas über Lernen erfährt, da die Frage, was Lernen eigentlich ist, nur kategorial geklärt werden kann. Holzkamp schreibt zu diesem Beispiel zugespitzt:

»…man weiß mithin, obwohl man den aktualempirischen Zusammenhang kennt, über menschliches ›Lernen‹ damit nichts, oder richtiger: Man weiß nicht, kann nicht wissen, was man darüber weiß« (515)

Ein impliziter (verborgener) kategoriale Bezug kann allerdings aufgeklärt und in seinem relativen Erkenntnisgehalt eingeschätzt werden (vgl. nächstes Kapitel).

Ob Methoden dem Gegenstand angemessen sind, lässt sich nur kategorial klären. Die Gegenstandsadäquatheit der Methoden ist das zentrale Kriterium. Daher ist für die Kritische Psychologie eine kategoriale Klärung vorgängig. Die Gegenstandsadäquatheit ist Objektivierungskriterien wie Geltung und Verallgemeinerbarkeit vorgeordnet. Umgekehrt gelte:

»…soweit durch die ›kategorial‹-methodologische Analyse die Gegenstandsinadäquatheit der Methode nachgewiesen ist, ist die Objektivierbarkeit ihrer Resultate definitiv wertlos: Was soll ein noch so optimal nachprüfbares, verifizierbares etc. Resultat nützen, wenn es aufgrund der Inadäquatheit des Kategorialbezugs mit dem zu untersuchenden Gegenstand nichts zu tun haben kann?« (521)

Holzkamp schließt ironisch:

»Wer methodische Objektivierbarkeit als selbständiges oder oberstes Kriterium der Wissenschaftlichkeit unter Ausklammerung der Gegenstandsadäquatheit des Verfahrens etablieren will, der handelt nach der Devise jenes berühmten Betrunkenen, der seinen Schlüssel im dunklen Park verloren hat, aber lieber unter der Laterne suchen will, ›weil es da heller ist‹.« (ebd.)

14.4 Kritik, Reinterpretation, Weiterentwicklung

Die kritisch-psychologischen Kategorien sind ein Mittel, um den inhaltlichen Gehalt sowohl von wissenschaftlichen wie alltäglichen Vorbegriffen analysieren und ggf. reformulieren zu können. Es geht also darum, den meist verdeckten Kategorialbezug von (Alltags-) Theorien und Konzepten aufzuklären (vgl. Kap. 14.3). Holzkamp schlägt für diesen Prozess drei Schritte vor.

  1. Kategoriale Kritik: Hier geht es um eine Bestimmung des Stellenwerts und der Geltung der Vorbegriffe. Dabei können »mannigfache Verkürzungen, Vereinseitigungen, Reduzierungen, Mystifikationen des Kategorialbezugs der Vorbegriffe …[sowie] Diskrepanzen und Widersprüche zwischen dem, was in den darin gegründeten einzeltheoretisch-aktualempirischen Forschungen vorgeblich, und dem, was tatsächlich untersucht wird, zutagetreten« (518)
  2. Kategoriale Reinterpretation: In Erweiterung des ersten Schritts geht es um die Aufhebung der Diskrepanz zwischen dem beanspruchten und dem tatsächlichen Erkenntniswert der Vorbegriffe durch ihre Reformulierung — sofern dies möglich ist, also »der psychologische Gegenstand lediglich verkürzt, vereinseitigt, mystifiziert etc. erfaßt, nicht aber total verfehlt wird« (ebd.). Holzkamp hebt hervor: »Eine besonders wichtige Reinterpretations-Figur … ist die Zurückweisung des ›allgemeinmenschlichen‹ Universalitäts-Anspruchs von Konzepten/Fragestellungen/Resultaten durch Herausarbeitung des Umstands, daß in ihnen tatsächlich Verkürzungen und Mystifizierungen menschlicher Befindlichkeit/Handlungsfähigkeit unter bürgerlichen Klassenverhältnissen blind als allgemeinmenschlich reproduziert werden« (519)
  3. Konzeptionelle Weiterentwicklung: Sofern möglich, können in Vorbegriffen formulierte Konzepte auch neu konstruiert werden, um »die jeweiligen wissenschaftlich, lebenspraktisch, berufspraktisch, politisch relevanten Fragestellungen so zu fassen, daß darin das Verhältnis der möglichen Forschungsresultate zu den Bestimmungen personaler Handlungsfähigkeitgegenstandsgerecht reflektiert und so der Stellenwert und die Tragweite der Forschungen präzise wissenschaftlich ausweisbar ist« (ebd.)

Kritik, Reinterpretation und Weiterentwicklung psychologischer Theorien und Methoden stehen in einem engen Zusammenhang. Dabei ist die Gegenstandsadäquatheit das zentrale methodologische Kriterium (vgl. Kap. 14.3). Diese Forderung betrifft auch die Frage der Objektivierung als Nachweis der Geltung und Verallgemeinerbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse. Wenn dies im wesentlichen nicht auf experimentell-statischem Wege erreicht werden kann ohne die Subjektivität verfahrenstechnisch auszuschließen (vgl. Kap. 14.2), wie dann? Anders gefragt: Wie kann Subjektivität objektiviert werden?

Vollständig auf Objektivierung zu verzichten weist Holzkamp als spiegelverkehrte Verkürzung zurück. Auf diese Weise werde zwar nicht versucht, »das ›Subjektive‹ als wissenschaftlich ununtersuchbar zu eliminieren (bzw. zu ›irrealisieren‹), sondern umgekehrt [wird] aus der wissenschaftlichen Ununtersuchbarkeit des Subjekts die Konsequenz gezogen, daß man es eben ohne den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit … analysieren müsse« (535). Die Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität beruhe auf »Gleichsetzung der Subjekthaftigkeit menschlicher Befindlichkeit überhaupt mit deren bürgerlich-ideologischer Form der scheinhaften Innerlichkeit und Icheingeschlossenheit meiner subjektiven Erfahrungen« (538).

Mit der kritisch-psychologischen Kategorie der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz wird hingegen das Verhältnis von objektiven Bedingungen und subjektiven Handlungsmöglichkeiten unter diesen Bedingungen, an deren Herstellung das Individuum beteiligt ist, gefasst. Der subjektive Möglichkeitsraum umfasst sowohl die Handlungsmöglichkeiten wie -beschränkungen, zu denen je ich mich bewusst verhalten kann:

»Der ›Standpunkt des Subjekts‹ schließt also die Berücksichtigung objektiver Bedingungen keineswegs aus, sondern ein: Ausgeschlossen ist damit lediglich die Verkürzung meines Realitätsbezugs auf meine ›Bedingtheit‹ unter Absehung von meiner Verfügungsmöglichkeit.« (539)

Wie der Standpunkt erster Person in der Forschung unreduziert zur Geltung kommen und Objektivität der gewonnenen Aussagen erreicht werden kann, ist das Thema der folgenden Kapitel.

14.5 Metasubjektiver Verständigungsrahmen

Wie kann Objektivität und damit Verallgemeinerbarkeit aktualempirisch erreicht werden? Zunächst fordert Holzkamp:

»Das Niveau des ›intersubjektivem Verständigungsrahmens aufgrund der kategorialanalytisch herausgearbeiteten verallgemeinerten Verständlichkeit subjektiv funktionaler Handlungsgründe im Medium von Bedeutungszusammenhängen … darf in der Beziehung zwischen Forscher und Betroffenen niemals unterschritten werden.« (541)

Abb. 33: Das Verhältnis von Bedingungen (dunkelgrau) und Subjektivität (hellgrau) in variablen-, subjektivistisch- und kritisch-psychologischen Ansätzen (v.l.n.r).

In dieser Forderung wird mit den Prämissen eine wichtige Kategorie nicht genannt, deren zentrale Stellung erst in den Nach-GdP-Texten richtig deutlich werden wird. Während sich die Bedeutungszusammenhänge auf Welt beziehen, sind die Handlungsgründe stets die des Individuums. Diese werden dann intersubjektiv verständlich, wenn die Prämissen, also jene Aspekte der Bedeutungen in der gegebenen Lebenslage und Position, die je ich zur Grundlage meines Handelns mache, aufgeklärt werden (vgl. Abb. 33). Prämissen sind also weder durch die Bedingungen/Bedeutungen determiniert, noch bloß subjektiv-willkürlich erzeugt, sondern sie bilden das zentrale Vermittlungsglied zwischen je mir, meinen Gründen und den für mich relevanten Bedeutungen in meiner Lebenswelt (vgl. dazu auch Kap. 11.2).

Die Relevanz des Vermittlungszusammenhangs wird deutlich, wenn man sich die Vereinseitigungen in traditionellen Ansätzen klar macht. Im variablenpsychologischen Zugang wird das Individuum als bloß unter Bedingungen stehend betrachtet. Seine Subjektivität wird durch die experimentell-statistischen Verfahren eliminiert (vgl. Kap. 14.2). Subjektivistische Zugänge hingegen isolieren die Seite der Bedingungen und verlagern die Bedeutungsstiftung und mit ihr verbundene psychodynamische Problematiken in das Individuum. Mischformen und das Pendeln zwischen beiden Positionen sind leicht vorstellbar, denn beiden liegt »die gleiche Ausgrenzung der gesellschaftlich-individuellen Wirklichkeit des Subjekts als Schöpfer der materiellen Lebensbedingungen, unter denen es existiert, zugrunde« (536).

Holzkamp bezeichnet die zu erreichende Objektivierung im intersubjektiven Forschungsprozess als »Niveau wissenschaftlicher ›Metasubjektivität‹, die die intersubjektive Beziehung zwischen Forscher und Betroffenem einschließt und übersteigt« (541). Mit Metasubjektivität meint Holzkamp jenen Raum, in dem individuelle und kollektive Selbstverständigung möglich ist. Dieser Raum muss aktiv hergestellt werden. Dazu dienen die kritisch-psychologischen Kategorien. Jede gelungene (Selbst-) Verständigung ist gleichzeitig Herstellung wissenschaftlicher Objektivität und Verallgemeinerung. Dies gilt zunächst für den Forschenden selbst:

»Die Kategorien haben sich also zu allererst als Mittel der Selbstklärung der Befindlichkeit des Forschenden innerhalb des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs im Sinne erweiterter Bedingungsverfügung und Daseinserfüllung zu ›bewähren‹: Andernfalls kann und wird er sie nicht zur Grundlage seiner subjektwissenschaftlichen Forschungsaktivitäten nehmen.« (541f)

Dann sind es die Betroffenen, die

»selbst auch ihre subjektive Befindlichkeit in Aneignung der subjektwissenschaftlichen Kategorien durchdringen und so auf die Ebene metasubjektiver Verallgemeinerbarkeit bringen: Dadurch werden, indem hier die Differenz zwischen Wissenschaftssubjekt und betroffenen Subjekten partiell aufgehoben ist, die Betroffenen zu realen Kommunikationspartnern des Forschers auf dem Niveau des metasubjektiv-wissenschaftlich qualifizierten intersubjektiven Verständigungsrahmens« (543)

Die Betroffenen werden so zu Mitforschenden und die »zu konzipierenden aktualempirischen Methoden zu Methoden in der Hand der Betroffenen« (ebd.). Das Mitforschendenkonzept ergibt sich notwendig aus dem Kriterium der Gegenstandsadäquatheit der Methoden (vgl. Kap. 14.3.), wonach die »Kategorien, Theorien, Methoden … nicht Theorien und Methoden etc. über die Betroffenen, sondern für die Betroffenen« (544) sein müssen.

Dies wiederum schließt ein, dass das zu untersuchende Problem nicht vom Forschenden dem Mitforschenden aufgegeben wird, sondern ein eigenes Problem des Mitforschenden ist, so dass beide »›von Subjekt zu Subjekt‹ unter den Vorzeichen des gemeinsamen Erkenntnisinteresses an der Klärung des Problems« (545) mitwirken können. Welche konkreten Methoden dabei dann tatsächlich genutzt werden, ist Bestandteil des aktualempirischen Forschungsprozesses.

14.6 Möglichkeitsverallgemeinerung

Welche Art von Verallgemeinerung ist nun im metasubjektiven Verständigungsrahmen (Kap. 14.5) möglich? Wie ist das geforderte Niveau wissenschaftlicher Metasubjektivität erreichbar? Zunächst einmal ist klar, dass »kein einziger Mensch in irgendeiner Hinsicht aufgrund der Unterscheidung von zentralen Tendenzen und Streuungen als Ausnahme von irgendetwas zu definieren« (547) sein kann, sondern »›je ich‹ in subjektwissenschaftlicher Forschung unreduziert erhalten bleiben muß« (ebd.).

Ausgangs- und Bezugspunkt ist Lebenspraxis und das sich darin konkretisierende Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen mit der Perspektive der Erweiterung der Verfügung über die eigenen Bedingungen. Metasubjektivität wird dann erreicht, wenn zwischen Forschenden und Mitforschenden eine Verständigung — »quasi von Möglichkeitsraum zu Möglichkeitsraum« (548) — über Verfügungsmöglichkeiten und -behinderungen stattfindet. Die subjektiven Möglichkeitsräume stehen dabei nicht unbezogen nebeneinander, sondern sind unterschiedliche Ausschnitte gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten.

Abb. 34: Möglichkeitsverallgemeinerung als asymptotische Annäherung eines Einzelfalls an einen Möglichkeitstyp (typischer Fall).

Die Möglichkeitsverallgemeinerung besteht nun darin, die eigenen Handlungsmöglichkeiten als Fall von typischen Handlungsmöglichkeiten zu erkennen. Der damit als Hypothesen formulierbare typische Möglichkeitsraum (Abk. Möglichkeitstyp, vgl. Abb. 34) verallgemeinert das jeweils eigene Verhältnis von Möglichkeiten und Behinderungen im individuellen Möglichkeitsraum. Damit wird hypothetisch erschließbar, welche Möglichkeiten erweiterter Bedingungsverfügung prinzipiell erreichbar sind. Holzkamp:

»›Verallgemeinern‹ bedeutet hier also nicht Wegabstrahieren, sondern Begreifen von Unterschieden als verschiedene Erscheinungsformen des gleichen Verhältnisses.« (549)

Das Vorgehen bei der theoretischen Verallgemeinerung kann in drei Schritten gegliedert werden:

  1. Bedeutungsanalyse: Erfassung der typischen Züge der konkreten Bedeutungsverhältnisse des interessierenden Forschungsfeldes entsprechend der identifizierten Lebenslage und/oder Position und der darin enthaltenen typischen Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen.
  2. Begründungsanalyse: Herausarbeitung typischer subjektiver Handlungsgründe angesichts der auf Basis der typischen Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen ausgegliederbaren Prämissen. Hier geht es darum, wie »die Alternative verallgemeinerter vs. restriktiver Handlungsfähigkeit im ›typischen Möglichkeitsraum‹ hinsichtlich der Dimensionen und der Reichweite der ›zweiten Möglichkeit‹ der Verfügungserweiterung konkret zu bestimmen ist« (552)
  3. Funktionsanalyse: Konkretisierung in Bezug auf die psychischen Dimensionen, was von der Problemstellung abhängig ist. Holzkamp nennt beispielhaft: »›Typische‹ Möglichkeiten/Restriktionen der Herausbildung ›menschlicher‹ Bedürfnisverhältnisse, ›typische‹ Formen der ›Instrumentalisierung‹ sozialer Beziehungen und deren ›intersubjektiver‹ Überwindbarkeit, ›typische‹ Formen des ›Nahegelegtseins‹ deutenden Denkens und dessen ›begreifender‹ Durchdringbarkeit, ›typische‹ Gefahren der ›Verinnerlichung‹ und Handlungsabkoppelung der Emotionalität und Möglichkeiten von deren Überwindung in ›verallgemeinerter Emotionalität‹, ›typische‹ Formen der Mystifikation von ›innerem Zwang‹ als ›Motivation‹ und deren Überschreitbarkeit in Richtung auf wirklich motiviertes Handeln« (552f)

Ob die theoretischen Verallgemeinerungen tragfähig sind oder nicht, kann sich nur in der Praxis erweisen. Im Forschungsprozess wird die Geltung und erreichte Qualität der Verallgemeinerung in einer kontrolliert-exemplarischen Praxis überprüft:

»Nur im wirklichen, praktischen Versuch der Möglichkeitsrealisierung können nämlich deren je realhistorisch gegebenen objektiven und psychischen Besonderungen und Beschränkungen an der widerständigen Realität empirisch erfahrbar werden, was gleichbedeutend ist mit der ›metasubjektiven‹ Diskutierbarkeit der speziellen Mittel, die hier zur Überwindung der Realisierungsbehinderungen etc. erfordert sind, und der Umsetzung in neue Änderungshypothesen als Anleitung des nächsten praktischen Schrittes versuchter Verfügungserweiterung etc.« (562)

Ein Beispiel für die Umsetzung eines solchen kreisförmigen, asymptotischen Annäherungsprozesses ist die im Projekt Subjektentwicklung in der frühen Kindheit formulierte Entwicklungsfigur. Ist nun ein solcher Annäherungsprozess relativ abgeschlossen, so wird damit angenommen, dass der erreichte Möglichkeitstyp

»nicht nur auf die subjektiven Möglichkeitsräume der in den Forschungsprozeß einbezogenen und an der Ausarbeitung beteiligten Betroffenen, sondern auf alle Betroffenen verallgemeinerbar ist, d. h., daß auch jedes andere Individuum unter den ausgegliederten realhistorischen Lebensbedingungen/Bedeutungskonstellationen (…) seinen subjektiven Möglichkeitsraum als einen ›Fall‹ des ›typischen Möglichkeitsraums‹ durchdringen und so die entsprechenden Selbstklärungen mit ihren praktischen Konsequenzen erreichen könnte.« (555f)

Die Grenze der Verallgemeinerung ist dort erreicht, wo die »Möglichkeiten der Erweiterung der Verfügung über gesellschaftliche Lebensbedingungen innerhalb des jeweils besonderen Möglichkeitstyps nicht mehr bestehen, sondern seine Überschreitung in manifest gesamtgesellschaftlich orientierter Praxis erfordern würden« (562).

14.7 Grundlagenforschung

Kann es so etwas wie subjektwissenschaftliche Grundlagenforschung geben, und wie verhielte sich diese zum Standpunkt erster Person? Im langen Gang durch die historisch-empirische Kategorialanalyse konnten auch immer wieder unterschiedliche Ebenen des Mensch-Welt-Verhältnisses aufgezeigt werden, die eine Eigenevolution durchliefen. Systematisch gruppiert lassen sich in der GdP vier solcher Ebenen identifizieren:

  1. Spezifisch-menschliche Prozesse/Dimensionen, die die gesellschaftliche Natur des Menschen bestimmen: Hier geht es um die zentrale Vermittlungskategorie der Handlungsfähigkeit einschließlich der Bedeutungs– und Bedürfnisverhältnisse sowie um Wahrnehmung, Denken, Emotionalität und Motivation entsprechend der gegebenen Lebenslage und Position im Verhältnis von Möglichkeiten und Einschränkungen (vgl. Kap. 14.6).
  2. Spezifisch-menschliche Prozesse/Dimensionen, die nicht die gesellschaftliche Natur des Menschen bestimmen: Dazu gehören etwa Primärbedürfnisse wie die Sexualität, die nicht selbstständiger Aspekt der individuellen Vergesellschaftung sind, sondern mitvergesellschaftet und somit gesellschaftlich geformt werden.
  3. Unspezifisch-menschliche Basisprozesse: Dazu gehören die Perzeptions-Operations-Koordination, subsidiäre Lernformen, elementare Ebenen der Perzeption (Aussonderung/Identifizierung, Gradientenorientierung) usw.
  4. Unspezifisch-physiologische Basisprozesse: Hier geht es schließlich um basale Körperprozesse der Mikroebene, die aus ihrem übergeordneten funktionalen Kontext isoliert wurden (etwa Mikroprozesse auf der Ebene von Gehirn, Nerven oder Sinnesorganen).

Vor jeder aktualempirischen Forschung wäre also jeweils kategorial zu klären, um welche Ebene es eigentlich geht oder gehen soll und welche inhaltlichen Aussagen überhaupt zu erreichen sind ohne durch Universalisierungen unzulässige Ebenenüberschreitungen vorzunehmen. Gleichzeitig sind die identifizierten Unterschiede nicht als Trennungen auszulegen, sondern die Einheit des handlungsfähigen Menschen und damit die Verbundenheit der Ebenen muss erhalten bleiben.

Holzkamp hebt hervor, dass sich mit dem ›Ebenenabstieg‹ die Aufgabenstellung der universalistischen Konzeption der traditionellen Psychologie (vgl. Kap. 14.2) annähert:

»Je unspezifischer die jeweilige kategoriale Ebene, innerhalb derer die Fragestellung für die aktualempirische Grundlagenforschung angesiedelt ist, umso weitergehend kann dabei von Spezifika des gesellschaftlichen Mensch-Welt-Bezugs abstrahiert werden, umso weitergehend nähern sich die an den Bedeutungskonstellationen zu berücksichtigenden Aspekte also den allgemeinen Zügen der Bedeutungen an, die die Menschen mit anderen Lebewesen gemeinsam haben: nämlich solchen einer bloß natürlichen, individuellen ›Umwelt‹.« (578)

Da auf den nicht bestimmenden und unspezifischen Ebenen 2 bis 4 von der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit abstrahiert wird, kann hier vom Einzelfall »direkt auf die ganze ›Gattung‹, d.h. auf die allgemeinsten Kennzeichen des psychischen Aspekts gesellschaftlich-›menschlicher‹ Existenz überhaupt, verallgemeinert werden« (578f). Daraus folgt dann allerdings auch:

»Sofern die Hypothese inhaltlich ›stark‹ genug ist, muß sich ihre Bestätigung nämlich auch hier mit ›bloßem Auge‹ feststellen lassen; so ist, wenn zwei Verteilungen sich nicht überlappen, eine statistische Unterschiedsprüfung überflüssig. Die Notwendigkeit der Anwendung von Statistik signalisiert also generell einen radikal revisionsbedürftigen Stand der Theorienbildung« (582)