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6. Bedeutungen und Bedürfnisse (Hominini)

Der Zeitraum zwischen dem ersten und zweiten qualitativen Sprung, zwischen Funktions- und Dominanzwechsel, ist die lange Phase der Menschwerdung. Der Prozess der Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen — ein Begriff, den wir erst später klären werden — vollzieht sich noch im Banne der Phylogenese, also biotisch-evolutionär, während der Dominanzwechsel den biotischen Werdensprozess abschließt und mit der gesellschaftlich-historischen Progression in einen neuen Entwicklungstyp übergeht (mehr dazu in Kap. 8).

Von der Sozialkoordination zur Gesellschaft

Abb. 17: Entwicklung der Sozialstrukturen vom Sozialverband zur Gesellschaft (Klicken zum Vergrößern)

Der »frühe Mensch« vor dem Dominanzwechsel ist also ein werdender Mensch, ein Hominini, was bedeutet, dass alle für die Phylogenese verwendeten Kategorien hier weiterhin gültig sind. Um aber die Entwicklungsrichtung »auf dem Weg zum Menschen« auch sprachlich zu kennzeichnen, benutzt Holzkamp in der GdP zunehmend menschlich-spezifische Begriffe — wohlwissend, dass Hominini-Populationen jenseits der Gattung Homo heute nicht mehr existieren, also entweder ausgestorben oder im Menschen aufgegangen sind. Die begriffliche Mischverwendung trägt zu der im letzten Kapitel festgestellten Orientierungsschwierigkeit innerhalb der GdP bei.

In der vorliegenden Einführung ist der logisch-zeitliche Ort jedoch »klar«, so dass wir der GdP in der Begriffsverwendung folgen können. Von nun an sei also etwa von Bedürfnissen statt von Bedarfen die Rede, sofern es nicht explizit um noch eindeutig tierische Bedarfe geht. Etc.

Die bereits in Kapitel 3.6 erwähnten Sozialstrukturen, die sich »zwischen« Organismus und Umwelt schieben (vgl. Abb. 8), werden nun je nach Entwicklungsstand terminologisch unterschieden (vgl. Abb. 17). Sozialverbände vor dem Funktionswechsel auf der Ebene der Sach- und Sozialintentionalität wie sie bereits in Kapitel 5.1 dargestellt wurden, werden als Sozialkoordination bezeichnet, solche zwischen Funktions- und Dominanzwechsel auf der Ebene der vorsorgenden Schaffung der Lebensbedingungen unter Einsatz von Arbeitsmitteln (nächstes Kapitel) als Sozialkooperation, bis sich schließlich nach dem Dominanzwechsel die Gesellschaft als allgemeine Sozialstruktur durchsetzt und sich eigengesetzlich historisch entwickelt (ab Kap. 8).

Inhaltlich geht es im sechsten Kapitel um die Herausbildung von Bedeutungen und Bedürfnissen des handelnden (vorher: aktiven) Individuums in seiner Beziehung zur gesellschaftlichen Realität (vorher: Umwelt). Oder in Termini der GdP: Es geht um die inhaltliche Kategorialanalyse. Im siebten Kapitel schließt sich dem die Darstellung der kognitiven, emotionalen und motivationalen Funktionen des Psychischen an — die funktionale Kategorialanalyse.

6.1 Von gelernten Orientierungs- zu Mittelbedeutungen

Wir schließen an das Kapitel 5.1 an, das mit der Ausbildung von Sach- und Sozialintentionalität, Sozialkoordination und sozialer Motivation den Entwicklungsstand noch vor dem Funktionswechsel darstellte. Die dort beschriebene neue Qualität der sozialen Ad-Hoc-Herstellung von Werkzeugen entwickelt sich nach der Zweck-Mittel-Umkehrung (Kap. 5.2) zur planmäßigen Herstellung von Arbeitsmitteln. Die autark gelernten Orientierungsbedeutungen richten sich nun auf die verallgemeinerte Herstellung der Werkzeuge, also auf ihre Bedeutungen als Arbeitsmittel, kurz: auf die Mittelbedeutungen.

Die Mittelbedeutungen besitzen einen Brauchbarkeits-Aspekt und einen Hergestelltheits-Aspekt. Der Brauchbarkeits-Aspekt verweist auf die vergegenständlichten verallgemeinerten Gebrauchszwecke des Mittels, das zur vorsorgenden Lebenssicherung eingesetzt wird. Hier geht es also um die zweckgemäße Benutzung des Arbeitsmittels. Die Aktivitäten, die sich hingegen den Hergestelltheits-Aspekt beziehen, sind völlig anderer Art. Hier geht es um die Vergegenständlichung der antizipierten Brauchbarkeiten im Kontext der vorsorgenden Lebenssicherung. Das Machen der Werkzeuge bezieht sich also auf die richtige Bearbeitung der Bestandteile (Holz, Stein, Metall etc.), das Benutzen der Werkzeuge auf die angemessene und effektive Handhabung (etwa die richtige Führung der Axt beim Holzeinschlag).

Die naturwüchsige Funktionsteilung in der Sozialkoordination entwickelt sich immer mehr zur Arbeitsteilung innerhalb der Sozialkooperation (vgl. Abb. 17). Damit ändern sich auch die sozialen Orientierungsbedeutungen. Aus den Artgenossen innerhalb des tierischen Sozialverbands, der durch Dominanzhierarchien und Verwandtschaftsverhältnisse strukturiert war, werden nun die durch die Mittelbedeutungen verorteten Partner im kooperativen Lebenszusammenhang.

Auch auf der Stufe der Sozialkoordination wurden bereits die Ergebnisse der überindividuell organisierten Aktivitäten im Kollektiv aufgeteilt (vgl. das Jäger-Treiber-Beispiel), doch war der Zusammenhang von Lebensmittelgewinnung und -nutzung noch eng auf den jeweils konkreten Sozialverband bezogen. Auf der Stufe der Sozialkooperation

»stehen jetzt die vorsorgend hergestellten Lebensbedingungen in sozial verallgemeinerter Weise zur Verfügung. Ich schaffe die Lebensbedingungen also nicht mehr lediglich für bestimmte andere mit, die aktuell an den Lebensgewinnungsaktivitäten beteiligt sind, sondern generalisiert ›für andere‹; ebenso sind die Lebensbedingungen, die mir zur Verfügung stehen, generalisiert ›von anderen‹ mitgeschaffen …« (214)

Dem entsprechend verändert sich auch die Struktur der Bedürfnisse. Die existenzsichernden Primärbedürfnisse werden nicht mehr befriedigt, wenn lediglich aktuelle Mangel-, Not- und Bedrohungssituationen abgewendet werden konnten, sondern nur dann, wenn ein abgesicherter Zustand gegenüber solchen möglichen bedrohlichen Situationen in verallgemeinert-vorsorgender Weise erreicht ist. Der Kontrollbedarf des Individuums richtet sich nun darauf, an der kooperativen Vorsorge beteiligt zu sein.

Manifeste Angst tritt folglich nicht mehr angesichts aktueller Bedrohungen auf, sondern in dem Maße, wie entweder die gesamte Kooperation, die die Existenz und Bedürfnisbefriedung in verallgemeinerter Weise sicher stellt, bedroht ist, oder der Einzelne vom kooperativen Lebenszusammenhang isoliert wird.

Die neuen nun auf die Kooperation bezogenen existenzsichernden Bedürfnisse bilden den emotional regulierten Antriebsrahmen, der die Individuen in die Lage setzt, sich an der Kooperation zu beteiligen. Denn:

»Man darf keineswegs davon ausgehen, daß der Zusammenhang zwischen der Beteiligung an kooperativer Lebensgewinnung und individueller Existenzsicherung/Primärbefriedigung den Organismen/Individuen von Anfang an ›bewußt‹ war, und sie deshalb, quasi aus ›Einsicht‹, sich an kooperativen Aktivitäten beteiligten. ›Bewußtsein‹ ist … ein Resultat der Entwicklung zur gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform …, kann also nicht schon als Voraussetzung für diese Entwicklung hypostasiert werden …« (216f)

Unter der Dominanz der Phylogenese setzen sich nach wie vor solche neuen Entwicklungen durch, die im Effekt biotisch funktional sind, der Art also einen Selektionsvorteil verschaffen. Kooperation, Schaffung und Nutzung von Arbeitsmitteln und auf die Beteiligung an der kooperativen Vorsorge ausgerichtete Bedürfnisse sind alles evolutionäre Entwicklungen, die sich im Überlebenskampf als förderlich erwiesen haben und deshalb zur Grundlage der weiteren Entwicklungschritte wurden.

6.2 Sexuelle Bedeutungen und Bedürfnisse

Die existenzsichernden Primärbedürfnisse sind auf die Mittelbedeutungen bezogen, die die Aktivitäten zur vorsorgenden kooperativen Schaffung von Arbeitsmitteln strukturieren (vgl. Kap. 6.1). Im Unterschied dazu werden die fortpflanzungsbezogenen Primärbedürfnisse und –bedeutungen nicht in die sich allmählich herausbildende gesellschaftliche Form der Lebensgewinnung einbezogen:

»Sexuelle Aktivitäten mit dem möglichen Resultat des ›Nachwuchses‹ erfolgen ja nicht durch die für die gesellschaftliche Lebensgewinnung charakteristische Dazwischenschaltung von Arbeitsmitteln, sondern sind natürliche Aktivitäten bloß sozialer Art.« (219)

Das gleiche gelte für die Jungenaufzucht,

»…da das aufzuziehende Kind ja nicht wie ein Werkstück Gegenstand und Resultat verändernder Einwirkung durch Arbeitsmittel ist.« (219)

Die tierischen Aktivitäten und Bedeutungen vor dem Funktionswechsel konnten in die Funktionskreise der Arterhaltung (Fortpflanzung) und der Selbsterhaltung (Existenzsicherung) eingeteilt werden (vgl. Kap. 3.2). Die Aktivitäten zur Fortpflanzung richteten sich direkt — also nicht vermittelt über die Selbsterhaltung — auf die Erhaltung der tierischen Population. Die Aktivitäten zur individuellen Existenzsicherung richten sich nach der Zweck-Mittel-Umkehrung jedoch auf die Beteiligung an der kooperativen Schaffung verallgemeinerter Lebensbedingungen, durch die die Existenz des einzelnen Individuums vorsorgend erhalten wird. Da die Aktivitäten zur Fortpflanzung mit individueller Erhaltung nichts zu tun haben, sind sie auch nicht in den Prozess der zunehmenden gesellschaftlichen Art und Weise, die Lebensbedingungen vorsorgend herzustellen, einbezogen. Gleichwohl sind sie individuell durch subsidiäres Lernen modifizierbar und dadurch gesellschaftlich formbar.

Frühere biotische Festlegungen verlieren damit ihre Funktion. So wird die Jungenaufzucht immer mehr zur Aufgabe der Sozietät und ist somit nicht mehr mit der Zeugung und der biotischen Familie verknüpft. Die Sexualität ist nicht mehr an eine zyklisch auftretende Bereitschaft und die körperliche Ausbildung von Sexualmerkmalen gebunden, sondern der Mensch ist das ganze Jahr gleichermaßen zu sexueller Aktivität in der Lage. Fazit:

»Aus dieser Charakteristik, einerseits eine elementare sinnlich-vitale Lebensäußerung des Menschen, andererseits aber gesellschaftlich formbar zu sein, ergibt sich die besondere Weise der unmittelbaren Erfahrungsintensität wie der ›Formierbarkeit‹ und ›Unterdrückbarkeit‹ der Sexualität durch historisch bestimmte Produktions- und Herrschaftsverhältnisse…« (222)

Dies wird später noch ausgeführt.

6.3 Entstehung der Sprache aus praktischen Begriffen

Ausgangspunkt der Sprachentstehung sind die kommunikativen Beziehungen im tierischen Sozialverband (vgl. Kap. 3.6). Gestische, akustische oder andere Signale werden genutzt, um zwischen den Artgenossen soziale Informationen zu übermitteln, die ihre Aktivitäten unterstützen. Nach den tiefgreifenden Umweltveränderungen und der Verdrängung ehemals waldbewohnender Primaten in die offene Savanne sind die Bedingungen für die Herausbildung der Sprache ungünstig. Die weitläufigen Bedingungen der Savanne erfordern eher eine rohe Distanzkommunikation (durch Warnlaute etc.), während Sprache ein typisches Mittel der differenzierten Nahkommunikation ist.

Warum ist Sprache dennoch entstanden und welche Selektionsvorteile bot sie?

Die Erklärung liegt — so die in der GdP entwickelte These — in den neuen Kommunikationsanforderungen innerhalb der entstehenden Art und Weise der vorsorgenden Schaffung der Lebensbedingungen in der Sozialkooperation. Die Herstellung und der Gebrauch von Werkzeugen erfordert eine Kommunikation im Nahbereich, um die intendierten kooperativen Aktivitäten zweckgemäß koordinieren zu können.

Da der optische Kanal durch die notwendige permanente Sichtkontrolle bei der Nutzung oder Herstellung von Arbeitsmitteln besetzt ist, bietet sich der akustische Kanal an, um die kooperativen Aktivitäten zu steuern. Viele Hominini-Arten sind dennoch trotz ihrer Fähigkeit zur sozialen Werkzeugherstellung ausgestorben. Folglich muss ein hoher Selektionsdruck bestanden haben, der auch geringe Selektionsvorteile in der zwischenartlichen Konkurrenz zur Geltung brachte. Dies könnte bei der immer stärkeren Differenzierung der akustischen Kommunikation der Fall gewesen sein.

Wie entstanden nun die symbolischen Bedeutungen, die schließlich sprachlich-lautlich kommuniziert wurden?

Im Prozess der Herstellung von Arbeitsmitteln werden verallgemeinerte Brauchbarkeiten vergegenständlicht. Dies schließt ein, dass wesentliche von unwesentlichen und notwendige von zufälligen Merkmalen unterschieden werden:

»Bei der Herstellung/dem Gebrauch einer Axt z.B. ist die Schärfe der Schneide das wesentliche Moment, das Gewicht der Axt tritt demgegenüber zurück, ist aber immer noch wesentlich, weil davon die Handhabbarkeit abhängt, die Färbung des Stiels hingegen ist unter dem Aspekt ihrer speziellen intendierten Brauchbarkeit ein unwesentliches und zufälliges Merkmal der Axt… Bei … etwa einer Höhlenzeichnung mag z.B. gerade die Färbung des Büffels zu seiner ›Bannung‹ und Beherrschung das wesentliche Merkmal sein…« (226)

Im Arbeitsprozess müssen die verallgemeinerten Gebrauchszwecke antizipiert werden. Sie sind der Maßstab für die Herstellaktivitäten, in denen realabstraktiv, also praktisch, die wesentlichen und unwesentlichen Bedeutungen unterschieden werden. Vor der Vergegenständlichung sind diese praktischen Unterscheidungen also bereits ideell in symbolischer Weise als praktische Begriffe vorhanden. Praktische Begriffe sind symbolische Repräsentanzen der im Herstellprozess auftretenden Notwendigkeiten.

Ein entsprechendes Verhältnis gibt es auch auf der Seite des Mittelgebrauchs. Die kooperativen Arbeitsschritte erfordern die kommunikative Verständigung sowohl über die intendierten Zwecke wie über den richtigen Einsatz der Arbeitsmittel:

»…man kann sich nur dann darüber verständigen, daß das Dach an der und der Stelle ›undicht‹ ist, und seine gemeinsamen Aktivitäten zum Dichtmachen des Daches kommunikativ vorbereiten und koordinieren, wenn man einen ›Begriff‹ vom ›Dichtsein‹ eines Daches als wesentlicher Bestimmung seines verallgemeinerten Gebrauchszwecks hat…« (227)

Mit der lautlichen Kommunikation entsteht eine neue symbolisch-begriffliche Informationsebene, die Sprache. Im Unterschied zum früheren unmittelbar-sozialen Informationsaustausch der Aktivitäten im tierischen Sozialverband (s.o.), ist die Repräsentanz der Mittelbedeutungen in der Sprache nicht an den sich tatsächlich vollziehenden (Arbeits-) Prozess gebunden. Die Gegenstandsbedeutungen sind auch unabhängig von den jeweiligen Aktivitäten und in Abwesenheit der entsprechenden Sachverhalte kommunizierbar.

Die Verselbstständigung und Erweiterung der symbolischen Informationsübermittlung zu tradierten Sprach- und Denkformen entspricht den Kommunikationsanforderungen im kooperativen Lebensprozess und ist Voraussetzung für die schließlich erreichte Dominanz der gesellschaftlichen Form der Herstellung der Lebensbedingungen.

Obwohl stets zusammen auftretend, sind die Symbolbedeutungen und die Sprachzeichen (die Laute), die die Symbole tragen, analytisch zu unterscheiden. Die begrifflich-symbolische Seite der Sprache bezieht sich auf die Bedeutungen der in verallgemeinerter Vorsorge kooperativ produzierten Lebenswelt. Die Sprachzeichen sind das Mittel, mit dem die sprachliche Beziehung zwischen den Menschen hergestellt wird, die Inhalte also tatsächlich kommuniziert werden. Die relative Selbstständigkeit (und damit Austauschbarkeit) der Sprachzeichen gegenüber den Begriffen ermöglicht die Entstehung eigener Symbolwelten und gesellschaftlicher Sprach- und Denkformen nach dem Dominanzwechsel. In Kapitel 9 wird dieser Aspekt erneut aufgegriffen.