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3. Orientierung, Emotionalität, Kommunikation

Der erste Fünfschritt — die Entstehung des Psychischen — ist fast geschafft. Nun geht es »nur« noch darum, im fünften Schritt die Ausdifferenzierung des Psychischen, der signalvermittelten Lebenstätigkeit, darzustellen. Mit dem Bereich des »Vermittelnden«, ist eine völlig neue Qualität evolutionärer Möglichkeiten entstanden. Organismen sind nun nicht mehr unmittelbar ihrer Umgebung ausgeliefert, sondern nutzen in zunehmend differenzierter Weise Signale, um ihre Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Dabei entstehen neue Funktionen des Psychischen: Orientierung, Emotionalität, Motivation, Kommunikation.

3.1 Drei Formen der Orientierung

Abb. 5: Drei Formen der Orientierung (Klicken zum Vergrößern)

Die Ausdifferenzierung der signalvermittelten Lebenstätigkeit, des Psychischen also, bringt drei unterschiedliche Formen der Orientierung hervor (vgl. Abb. 5).

Die Gradientenorientierung ist eine elementare Form der Orientierung, bei der sich der Organismus »durch« unterschiedliche Signalintensitäten »hindurch« bewegt und dabei das jeweilige Dichtegefälle des Lichts, der Temperatur o.ä. (den Gradienten) als Information für seine Aktivitätssteuerung nutzt. Auf diese Weise sind zielgerichtete Bewegungen möglich, also etwa das Aufsuchen von zuträglichen (nährstoffreichen) oder das Verlassen von abträglichen (gefährlichen, nährstoffarmen) Regionen (»da entlang«).

Der Nachteil dieser einfachen Orientierungsform ist die Kopplung von Bewegung und Orientierung. Es handelt zwar um eine Distanzbewegung in Relation zur Nahrung (oder Gefahr), aber nicht um eine Bewegung in Distanz zum Signal. Gleichwohl ist diese einfache Orientierungsform als unspezifische Funktion auch noch beim Menschen vorhanden (etwa beim Geruchssinn).

Die Orientierungsform der Aussonderung/Identifizierung hebt den Nachteil der Gradientenorientierung auf. Hier kann das Signal in Distanz zum eigenen Körper und damit unabhängig von der eigenen Bewegung identifiziert werden. Eine Eigenbewegung gibt zusätzliche Informationen zur Ortung des Gegenstands in Relation zum eigenen Standort (»dort hin«/»von dort weg«). Die Ausführungsaktivität, also die Bewegung, verselbstständigt sich nun von der Orientierung, also der Ortung des Gegenstands. Diese neue Qualität der Orientierung und der Verselbstständigung der Ausführungsaktivität geht mit einer zunehmenden Differenzierung des internen nervösen Signaltransports und einer strukturellen Entwicklung des Zentralnervensystems einher.

Der Nachteil der Aussonderung/Identifizierung ist seine mangelnde Distanz-Differenzierung der identifizierten Gegenstände. Diese können nur einzeln mit gleichsam »pauschaler Bedeutung«, nicht aber in Relation zueinander in der Distanz identifiziert werden.

Die Orientierungsform der Diskrimination/Gliederung überschreitet die Begrenzungen der Aussonderung/Identifizierung und ermöglicht eine Distanz-Unterscheidung (Diskrimination) unterschiedlicher Gegenstände voneinander. Das Orientierungsfeld gliedert sich nun nach unterschiedlichen Bedeutungseinheiten als inhaltlich bestimmten Aktivitätsdeterminanten.

3.2 Orientierung und Ausführung

Die organismischen Aktivitäten können unterschieden werden in solche, die sich auf die Orientierung und solche, die sich auf die Ausführung der angestrebten Ziele zur Arterhaltung beziehen. Orientierungsaktivitäten sind dabei als vermittelnde (hinführende) Aktivitäten immer auf Ausführungsaktivitäten bezogen, differenzieren sich aber im Verlaufe der Evolution eigenständig aus. Anschaulich formuliert schieben sich zwischen den jeweils gegebenen Zustand des Organismus bzw. der Population immer mehr orientierende Teilaktivitäten, um die Ausführungsaktivitäten, die das Überleben der Art sicherstellen, zu ermöglichen. Die Ausführungsaktivitäten und die ihnen zugeordneten Ausführungsbedeutungen lassen sich in zwei Funktionskreise unterteilen:

  • Arterhaltung (Fortpflanzung)
  • Selbsterhaltung (Existenzsicherung)

Abb. 6: Verhältnis von Orientierung und Aktivität bzw. Ausführung und Orientierung in Abhängigkeit von der Orientierungsform (Klicken zum Vergrößern).

Dabei ist die Selbsterhaltung zunächst noch vollständig der Arterhaltung untergeordnet.

Nebenstehende Tabelle (Abb. 6) zeigt schematisch Orientierungs- und Ausführungsaktivität in Abhängigkeit von der Orientierungsform. Bei der elementaren Form der Gradientenorientierung sind alle drei Aspekte noch zusammengeschlossen. Die Orientierung an einem Gradienten ist nur möglich vermittels einer Orientierungsbewegung, die wiederum die unmittelbare Voraussetzung für die Ausführungsaktivität ist (etwa die Nahrungsaufnahme durch gesteuerte Diffusion über die Zellmembran).

Bei der Orientierungsform der Aussonderung/Identifizierung gelingt die Orientierung ebenfalls nur durch die Bewegung des Organismus, die erst Aufschluss über die relative Position zum Gegenstand ergibt. Da es sich jedoch schon um eine frühe Form der Distanzorientierung handelt, kann die Ausführungsaktivität von der Orientierungsaktivität getrennt erfolgen (z.B. als Abfolge von erst Annäherungsbewegungen und dann Nahrungsaufnahme).

Erst die Diskrimination/Gliederung ermöglicht es jedoch, sowohl Orientierungsaktivitäten wie Ausführungsaktivitäten völlig eigenständig zu vollziehen, da diese Form der differenzierenden Distanzorientierung selbst keine Aktivität mehr einschließt. Es liegt auf der Hand, dass die Diskrimination/Gliederung damit die besten Ansatzpunkte für die weitere evolutionäre Ausdifferenzierung und Entwicklung bietet.

Die Diskrimination/Gliederung als höchste Orientierungsform auf dieser Entwicklungsstufe ermöglicht Frühformen der Analyse und Synthese, also der Zerlegung und Rekombination unterschiedlicher Bedeutungseinheiten. Wie alle Orientierungsprozesse laufen diese »automatisch« ab, unterstellen also keine »bewusste Instanz«, die über die Orientierungsaktivitäten absichtsvoll »entscheidet«. So sind die entsprechenden Bedeutungseinheiten mit den entsprechenden Aktivitäten gekoppelt und wirken so als Aktivitätsauslöser oder -verhinderer. Dabei reicht es aus, wenn von der tatsächlichen Gestalt durch Vereinfachung soweit abstrahiert werden kann, dass die »richtige«, d.h. überlebensrelevante Aktivität ausgelöst wird. Solche Realabstraktionen spiegeln die jeweils artspezifische Umwelt wider. Es gibt also nicht »eine« Umwelt, sondern jede Art lebt in ihrer eigenen Umwelt, die durch die artspezfischen Bedeutungseinheiten strukturiert ist. In der Sprache der GdP:

»›Bedeutungseinheiten‹ sind also nicht als solche bestimmbar, sondern drücken immer die Beziehung von Organismen einer gewissen Ausprägungsart und Entwicklungshöhe zu den biologisch relevanten Merkmalskomplexen ihrer historisch konkreten artspezifischen Umwelt aus.« (92)

Bislang wurden sowohl die artspezifischen Bedeutungen wie auch der Zustand des Organismus einfach mitgenannt. Der nächste Anschnitt wird explizit auf Bedeutung und Bedarf eingehen. Eine Schlüsselrolle bei der Aufklärung spielt dabei die Emotionalität.

3.3 Bedeutung und Bedarf

Eine fundamentale Leistung der Kritischen Psychologie ist die Entwicklung eines konsistenten Bedeutungskonzeptes aus der Rekonstruktion der Entwicklung des Psychischen. Ansatzpunkt ist die Bestimmung des Psychischen als signalvermittelte Lebenstätigkeit. Dabei werden — kurze Rekapitulation — stoffwechselneutrale Umwelttatbestände als Signale genutzt, um die Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Dies gelingt, weil der Organismus zum Umweltsachverhalt immer mehr auf »Distanz« gehen und hinführendende, vermittelnde Sachverhalte in der Orientierung auswerten kann. Mit anderen Worten: Die stoffwechselneutralen Umwelttatbestände, die als vermittelnde Signale nutzbar sind, haben für den Organismus eine Bedeutung.

Schon auf dieser frühen Stufe wird damit klar, dass die »Bedeutung« weder ein Sachverhalt sein kann, der sich nur »auf der Seite des Organismus« abspielt, noch als vom Organismus getrenntes »Ding in der Umwelt« liegt. Dem Umweltding sieht man nicht an, für welchen Organismus es eine Bedeutung hat, denn die Bedeutung ist artspezifisch. Das gleiche Umweltding kann folglich — je nach Art — unterschiedliche Bedeutungen haben. Die Bedeutung ist also stets als Vermittlungsverhältnis zwischen Organismus und Umwelt (-Ding) zu verstehen. Anschaulich formuliert liegt die Bedeutung immer »zwischen« Organismus und Umwelt.

Aus diesem Grund ist die Analyseeinheit auch nie der isolierte Organismus oder die von ihm abgetrennte Umwelt »als solcher«, sondern der in der Umwelt sich orientierende, aktive Organismus — oder in einem Wort: die Orientierungs-Aktivitäts-Koordination.

Entsprechend der Unterscheidung von Orientierungs- und Ausführungsaktivitäten im letzten Abschnitt lassen sich diesen nun Orientierungs- und Ausführungsbedeutungen zuordnen. Nur wenn die Bedeutungen im Vermittlungsverhältnis von Organismus und Umfeld vorhanden sind, wird die entsprechende Aktivität auch ausgeführt — dann jedoch gleichsam »automatisch«. In der Sprache der GdP: Die Bedeutung wird aktualisiert.

Umgekehrt bedeutet das, dass eine Bedeutung, die nicht aktualisiert wird, für den Organismus auch nicht existiert. Wenn wir von einem Forscher_innen-Standpunkt über Bedeutungen von Organismen reden, sind eigentlich nur »potenzielle Bedeutungen« gemeint. Für den Organismus existieren sie nur während der Aktivitätsumsetzung. Die Bedeutungen werden daher auch Aktivitätsrelevanz bezeichnet.

Abb. 6: Zusammenhang von Bedeutung (1), Bedarf (2), Emotion (3) und Aktivität (4). Zum Vergrößern klicken.

Neben der Seite der Umwelt ist im Organismus-Umwelt-Verhältnis auch die Seite des Organismus zu berücksichtigen. Die automatische Bedeutungsaktualisierung, also die Aktivität, findet nämlich nicht nur statt, wenn die entsprechenden Umweltbedingungen vorliegen, sondern ebenso erst, wenn die entsprechenden Organismus-Bedingungen gegeben sind. Der Organismus muss also »bereit« sein, die entsprechende Bedeutung zu aktualisieren und die Aktivität auszuführen. Diese »innere Bereitschaft« ist nun wiederum keine wahlfreie Angelegenheit, sondern ist dem Organismus ebenso objektiv gegeben wie die Umweltbedingungen: Ist der Zustand des Organismus in Bezug auf die Bedeutung in »Bereitschaft«, kommt es auch zur Aktivität. Der innere Zustand als Maßstab der Aktivitätsbereitschaft wird Bedarf genannt.

Doch auch hier ist noch nicht Schluss mit den Vermittlungsschritten im Organismus-Umwelt-Verhältnis. Sowohl »innerer« Organismus- wie »äußerer« orientierter Umweltzustand müssen noch miteinander »verrechnet« und dann »bewertet« werden. Dies ist insbesondere dann notwendig, wenn Bedarf und Bedeutung nicht eindeutig und, noch wichtiger, wenn mehrfache und unter Umständen sogar widersprüchliche Bedeutungseinheiten für den Organismus in der Umwelt präsent sind. Diese Bewertungsinstanz ist die Emotionalität. Sie ist Thema des nächsten Abschnitts.

Zusammengefasst ergibt sich die nebenstehende Skizze (Abb. 6) eines logisch zusammengehörigen Orientierungs-Aktivitäts-Komplexes aus Bedeutung, Bedarf, Emotion und Aktivität: Ein Umweltding ist dann für einen Organismus bedeutsam (1), wenn ein entsprechender Bedarf (2) vorhanden ist, und die kognitiv (in der Orientierung) erfasste Bedeutung am Maßstab des Bedarfs emotional positiv bewertet wird (3), so dass es zur Aktivität (4) kommt und somit Bedeutung und Bedarf aktualisiert werden.

Ganz schön komplex, so ein einfacher Organismus! Damit wird auch offensichtlich, wie radikal unterbelichtet Verhaltenstheorien nach einem Reiz-Reaktionsschema sind — selbst in Bezug auf das hier diskutiert sehr einfache tierische Niveau. Die einem kurzgeschlossenen Reiz-Reaktionsschema nahe kommenden Verhaltensweisen entsprechen eher dem Sonderfall von Reflexen, bei denen zwischen Bedeutung und Aktivität keine emotionale Wertung »dazwischen geschaltet« ist.

3.4 Bedarf und Emotionalität

Die tatsächliche Aktivität des Organismus ist identisch mit der Aktualisierung einer Bedeutung, während die Aktivitätsbereitschaft den Bedarf anzeigt, der mit einer zu aktualisierenden, also »potenziellen« Bedeutung verbunden ist. Mit dem Funktionswechsel zur signalvermittelten Lebenstätigkeit (vgl. Kapitel 2.2) bezieht sich der Bedarf nun nicht mehr auf unmittelbare physische Mangelzustände des Organismus, sondern auf die Signalvermittlung, die Auskunft darüber gibt, ob Umweltgegebenheiten für die Überwindung oder Vermeidung von Mangelzuständen geeignet sind.

Der Emotionalität kommt nun die Schlüsselfunktion bei der Bewertung der Umweltsignale zu. In der GdP wird die Kategorie der Emotionalität so bestimmt:

»Emotionalität ist die Bewertung von in der Orientierung, also ›kognitiv‹ erfaßten Umweltgegebenheiten am Maßstab der jeweiligen Zuständlichkeit des Organismus/Individuums, damit gleichbedeutend mit dem Grad und der Art der Aktivitäts-/Handlungsbereitschaft.« (98)

Die Emotionalität vermittelt also zwischen Orientierung und Ausführung (vgl. Kapitel 3.2) bzw. auf menschlichem Niveau zwischen Wahrnehmung und Handlung. Alles muss also zunächst »durch die Emotionen hindurch«, bevor es zu einer Aktivität oder — auf menschlichem Niveau — zu einer Handlung kommt.

Auf organismisch-tierischem Niveau darf die Bewertung nicht vorschnell als »Wahl« vermenschlicht werden. Eine »Wahl« hat weitere Voraussetzungen, die sich erst im Verlaufe der Evolution herausbilden. Dennoch wird hier deutlich, dass sich immer mehr vermittelnde »Instanzen« zwischen den Organismus und die Umwelt schieben mit dem Effekt, die Überlebenswahrscheinlichkeit des Organismus und damit der Art zu erhöhen.

Evolutionär differenzieren sich Bedeutungs- und zugehörige Bedarfsdimensionen zunehmend aus und verselbstständigen sich. Da diese nun keine direkte Funktion mehr für den Stoffwechsel haben, müssen die Aktivitäten zur Aktualisierung der stoffwechselunabhängigen Bedeutungs- und Bedarfsdimensionen emotional positiv bewertet werden: Sie müssen einen Lustgewinn für das Individuum bringen. Da die entsprechenden Aktivitäten vor dem möglichen Auftreten von Mangelzuständen ausgeführt werden, gewinnt die Emotionalität objektiv die Funktion der Anleitung zur Vorsorge, denn »Ziel« der vermittelnden Aktivitäten bleibt die Erhaltung der Population.

Die unterschiedlichen Bedeutungs- und Bedarfsdimensionen können von unterschiedlichen oder gar gegenläufigen Bewertungen begleitet sein. Die Emotionalität vereinheitlicht die Teilwertungen nun zu einer Gesamtwertung. Sie gewinnt damit orientierungsleitende Funktion und organisiert die Aktivitäten der Organismen. Dies ist deswegen möglich, weil die tatsächliche Aktivität und die Bereitschaft dazu getrennt sind und somit auch getrennt bewertet werden.

Bei einer Bereitschaft zu einer Aktivität, die entsprechend bewertet wird, muss also nun eine »passende« Bedeutung gefunden werden, damit die Aktivität auch tatsächlich ausgeführt wird. Anstatt »darauf zu warten«, bis die jeweilige Bedeutung zufällig auftritt, wird diese nun — angeleitet durch die Emotionen — zunehmend gezielter aufgesucht. Dies ist der Ansatzpunkt für die evolutionäre Herausbildung des Lernens und des Neugier- und Explorationsverhaltens (vgl. Kapitel 4).

3.5 Orientierungsleitende Funktion der Emotionalität

Die unten stehende Abbildung 7 zeigt die Herausbildung der orientierungsleitenden Funktion der Emotionalität für die drei Formen der Orientierung in einer zusammenfassenden Übersicht. Die gerichteten Pfeile zwischen den drei Orientierungsformen sollen keine Entwicklungsreihenfolge (die etwa eine Art evolutionär durchlaufen müsse) andeuten, sondern allein das jeweils erreichte höhere Differenzierungsniveau von Orientierung und Ausführung gegenüber undifferenzierteren Formen zeigen. Anhand der Abbildung können wir den Stand der Darstellung noch einmal rekapitulieren.

Abb. 7: Orientierungsleitende Funktion der Emotionalität (klicken zum Vergrößern).

Bei der Gradientenorientierung sind Orientierung und Ausführung noch zusammengeschlossen. Aufgrund der mangelnden Differenzierungsfähigkeit existieren Bedeutung, Bedarf und vermittelnde Emotionalität nur als Frühformen (»Keimformen«, vgl. Kapitel 1.3). Bei höher entwickelten Lebewesen, die neben differenzierten Orientierungsformen auch noch über die Gradientenorientierung verfügen, haben sich Bedeutung, Bedarf und Emotionalität gleichwohl evolutionär ausdifferenziert — bis hin zum Menschen, der ebenfalls noch über Formen der Gradientenorientierung verfügt (etwa den Geruchssinn). Dort können Bedeutungseinheiten unterschieden werden, was bei den einfachen Organismen, die die Gradientenorientierung als einzige Form der Orientierung ausgebildet haben, nicht der Fall ist.

Mit der Orientierungsform der Aussonderung/Identifizierung verselbstständigen sich die Orientierungs- gegenüber den Ausführungsaktivitäten. Sowohl Orientierungs- wie auch Ausführungsaktivitäten beziehen sich allerdings noch auf die gleiche Bedeutung:

»Ein Nahrungsmittel z.B. wird zunächst per Orientierungsaktivität ›ausgesondert‹ und dann per Ausführungsaktivität verzehrt« (111).

Die Emotionalität hat hier die Funktion, die Annäherungs- oder Abwendungsaktivitäten durch Bewertung von orientierter Bedeutung und gegenwärtigem organismischem Bedarf zu leiten.

Erst mit der Diskrimination/Gliederung ist eine differenzierende Orientierungsform erreicht, die unterschiedliche Bedeutungen und damit auch Bedarfe für Orientierung und Ausführung ermöglicht. Hier kommt die orientierungsleitende Funktion der Emotionalität zu ihrer vollen Geltung. Nun geht es nicht mehr nur darum, die Annäherung oder Abwendung an einen bedeutungsvollen Sachverhalt zu vermitteln, sondern unterschiedliche und u.U. in ihrer Einzelbewertung sogar gegensätzliche Bedeutungen zur einer einheitlichen Aktivitätsanleitung zusammenzufügen. Auch hier ist wieder hervorzuheben, dass Lebewesen bei unterschiedlichen Bedeutungen keine »bewusste Wahl« treffen, sondern ihr emotionaler Zustand gleichsam »automatisch« zu einer entsprechenden Aktivität führt.

Differenzierte Bedeutungen und entsprechende Bedarfe müssen auf Seiten des Organismus psychisch repräsentiert sein. Ein zentrales Nervensystem entsteht und entwickelt sich im Maße der zunehmend differenzierteren, emotional vermittelten Orientierung in der Umwelt. Die Vorstellung, Aktivitäten von Organismen werden quasi »unvermittelt« durch »Gewebedefizite« ausgelöst, entspricht demgegenüber dem vorpsychischen Entwicklungsniveau des Lebens. Tatsächlich ist die Aufgabe der emotional gesteuerten Orientierungs- und Ausführungsativitäten, »Gewebedefizite« wie etwa »Hunger« zu vermeiden, um durch entsprechende Vorsorgeaktivitäten die Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen..

3.6 Kommunikation und Sozialstrukturen

Die Orientierungsform der Diskrimination/Gliederung ist die Voraussetzung für die Entwicklung von kommunikativen Beziehungen zwischen Tieren. Andere Lebewesen in der Umgebung müssen gegenüber der sonstigen Umwelt oder potenziellen Fressfeinden als Artgenossen unterschieden werden können, um reziproke, bidirektionale, soziale Bedeutungsbeziehungen aufzubauen. Soziale Strukturen und die Fähigkeit zur orientierenden Heraushebung von einzelnen Artgenossen als Individuen entwickeln sich in Abhängigkeit von einander. Je differenzierter die Unterscheidung von Artgenossen als sozialen Bedeutungseinheiten ist, desto komplexer können die Strukturen im Sozialverband sein.

Abb. 8: Von der Natur- zur Gesellschaftsgeschichte (klicken zum Vergrößern)

Zwischen den Individuen können mittels optischer, akustischer oder anderer Signale gezielt soziale Informationen übermittelt werden. Kommunikative Beziehungen haben die Funktion, tierische Aktivitäten zu koordinieren, etwa bei der Fortpflanzung oder der Jagd. Sie können auch dazu dienen, den Sozialverband oder den Lebensraum zu schützen, etwa durch Warnrufe vor Fressfeinden (womit sich die Rufenden gleichwohl selbst besonders gefährden), Markierung des Territoriums oder durch soziale Signale zur Hemmung innerartlicher Aggression.

Abbildung 8 veranschaulicht die Bedeutung der evolutionären Herausbildung von Sozialverbänden. Die sozialen Strukturen »schieben« sich »zwischen« Organismus und Umwelt und bieten damit eine neue Qualität der Vermittlung zwischen beiden Polen. Sie haben die objektive Funktion, die Überlebenswahrscheinlichkeit der jeweiligen Art zu erhöhen. Damit haben wir es von nun an auch mit drei Ebenen der Systemerhaltung zu tun:

  • Population
  • Sozialverband
  • Einzelorganismus

Wie in der Grafik auch deutlich wird, sind die Sozialstrukturen der evolutionäre Ausgangspunkt für die Entwicklung der Gesellschaft, einer dann völlig neuen Qualität der Vermittlung zwischen Mensch und Welt. Eine wichtige Voraussetzung für diesen Entwicklungssprung ist zunächst die Herausbildung der Lern- und Entwicklungsfähigkeit, die im nächsten Kapitel 4 vorgestellt werden wird.