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12.5 Selbstfeindschaft und Unbewusstes
Beim Versuch, die eigene Handlungsfähigkeit unter Anerkennung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse auf Kosten von anderen zu sichern, kann sich eine Dynamik entwickeln, deren Analyse für Holzkamp den »Kernwiderspruch jeder subjektiven Lebensproblematik innerhalb der bürgerlichen Klassenrealität« (376) zu Tage fördert. Die kategoriale Aufschlüsselung dieses Kernwiderspruchs ist die Voraussetzung »für eine adäquate theoretisch-aktualempirische Erfassung von all dem, was … als ›psychische Schwierigkeiten‹, ›Störungen‹, ›Neurosen‹ etc. verhandelt wird« (377).
Die Pole des Widerspruchs sind auf der einen Seite der Versuch, »durch Arrangement mit den Herrschenden … Handlungsfähigkeit unter Verzicht auf die Verfügung über deren Bedingungen zu erreichen« (ebd.). Auf der anderen Seite steht »das Sich-Ausliefern an unbeeinflussbare Manifestationen gegebener Unterdrückungsverhältnisse, quasi an die ›Willkür‹ der Herrschenden« (ebd.). Durch den Verfügungsverzicht und die eigene Auslieferung gefährdet man das Niveau an Handlungsfähigkeit, das »man durch den Verzicht auf die Bedingungsverfügung und das Arrangement mit den Herrschenden doch gerade absichern will« (ebd.). Mehr noch:
»Indem man hier, … einerseits im Arrangement mit den Herrschenden zur Durchsetzung der eigenen Partialinteressen an deren Macht partizipieren, damit sich selbst an der Unterdrückung aktiv beteiligen muß, stärkt man andererseits gerade jene Mächte und Kräfte, denen man im Verzicht auf die Verfügung über die Möglichkeitsbedingungen des Handelns ausgeliefert ist. Dies heißt, daß (mit den Worten Ute H.-Osterkamps*) ›… jeder, der sich innerhalb der gegebenen Abhängigkeitsverhältnisse einzurichten versucht, nicht nur Opfer, sondern auch Komplize der Machthabenden und damit sich selbst zum Feinde wird‹« (ebd.)
Die Dynamik der damit formulierten Selbstfeindschaft liegt nun darin, dass ich mir auf jeder Ebene mit meinen Handlungen selbst wieder ins Genick schlage, weil ich Verhältnisse befördere und erzeuge, in denen die anderen handeln wie ich, also versuchen, sich auf meine Kosten durchzusetzen, was ich wiederum unter Kontrolle bringen und abwehren muss etc. Was mir im Rahmen restriktiver Handlungsfähigkeit kurzfristig gelingt, verringert langfristig »meine eigene Basis wirklicher langfristiger Handlungsfähigkeit« (ebd.):
»Meine Instrumentalisierung des anderen impliziert notwendig, dass auch der andere mich instrumentalisiert. Indem ich ihn von mir isoliere, isoliert er mich von sich. Damit bin ich, im Versuch, mich durch die Kontrolle anderer abzusichern, immer mehr auf mich selbst zurückgeworfen, also immer ohnmächtiger den von mir unverfügbaren Lebensbedingungen ausgeliefert. (…) Der Versuch der Fremdkontrolle produziert hier also selbst permanent sein Gegenteil, die Verringerung der ›zweiten Möglichkeit‹ der Bedingungsverfügung, damit der Absicherung auch der Handlungsmöglichkeiten im jeweils gegebenen Rahmen« (377f)
Die perpetuierte Selbstfeindschaft führt zu einer Reduzierung und Zersetzung meiner Lebensqualität, zu chronischer Bedrohungsfixierung und wechselseitiger Instrumentalisierung und Kontrolle selbst bis in sexuelle Beziehungen hinein.
Nach dem in Kap. 11.1 dargestellten Apriori der Individualwissenschaft kann sich der Mensch nicht bewusst schaden. Das bedeutet, dass die Selbstfeindschaft dem Individuum nicht bewusst sein kann. Die Konsequenz ist, dass alle tatsächlich dennoch auftretenden Hinweise auf die Mitverantwortung für das eigene Leiden verdrängt, geleugnet, abgespalten und verschleiert werden müssen. Die Realitätsverleugnung muss gegen die im subjektiven Möglichkeitsraum real vorhandenen Alternativen »immer wieder durch ›Einarbeitung‹ der diskrepanten Erfahrungen in den subjektiven Begründungszusammenhang restriktiver Handlungsfähigkeit gegen das eigene ›bessere Wissen‹ durchgesetzt werden« (380). Durch die notwendige Wiederholung und kontinuierliche Absicherung etablieren sich »(relativ) überdauernden Modi der handelnden Welt- und Selbsterfahrung …, also quasi … ›dynamisch unbewußte‹ Anteile der Persönlichkeit« (381).
Damit sieht Holzkamp die Grundlagen für eine »subjektwissenschaftliche Konzeption des ›Unbewußten‹ ein Stück weit entfaltet« (ebd.) und folgert, dass die so hergeleitete
»kategoriale Bestimmung des Unbewußten eine radikale Kritik an all solchen Auffassungen einschließt, in welchen der allgemein-menschliche Charakter des Unbewußten, die genuine Irrationalität menschlichen Handelns und Denkens (meist in psychoanalytischer Tradition) gegen vorgeblich flach-rationalistische Vorstellungen des Marxismus zur Geltung gebracht werden sollen: Das ›Unbewußte‹ ist weder eine anthropologische Letztheit, noch ist es irrational. Es ist vielmehr das Implikat der subjektiven Begründetheit und Funktionalität eines Handlungsrahmens, der sich der ›Rationalität‹ der Herrschenden, letztlich des Kapitals, unterwirft, wobei gerade dadurch, daß das Individuum in diesem Rahmen ›rational‹ handelt, es sich selbst zum Feinde werden muß.« (ebd.)
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*) Quelle: H.-Osterkamp, Ute (1979), ›Narzißmus‹ als neuer Sozialisationstyp? In: Demokratische Erziehung 2, S. 166.
Handlungsfähigkeit unter Verzicht auf die Verfügung über deren Bedingungen zu erreichen
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