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7.6 Denken von Handlungszusammenhängen
Die gesellschaftlichen Zielkonstellationen bilden den objektiven Handlungszusammenhang, in dem die Individuen ihre Existenz sichern. Dieser besitzt drei Aspekte (»Teilzusammenhänge«):
- Art und Weise des Stoffwechsels mit der (äußeren) Natur
- Arbeitsteilung, Arbeitsorganisation und individueller Beitrag
- Allgemeine Vorsorge und individuelle Existenzsicherung
Im Unterschied zum bloß operativen, also individuell-regulatorischem Denken, setzt das handlungsbezogene Denken voraus, dass das Individuum den übergreifenden Handlungszusammenhang mit seinen drei Aspekten kognitiv erfäßt. Diese Aneignung ist möglich, weil die bereits produzierte Lebenswelt jene kognitiven Strukturen enthält, die einmal gedacht worden sein mussten, um sie herzustellen:
»Solche ›Denkstrukturen‹ oder ›Denkformen‹ stecken schon in den durch vergegenständlichende Arbeit geschaffenen ›Mitteln‹/Lebensbedingungen und durch sie konstituierten sozialen Verhältnisse selbst, sind aber … auch in darauf bezogenen sprachlich-symbolischen Formen repräsentiert« (285)
Gegenstandsbedeutungen wie sprachlich repräsentierte symbolische Bedeutungen enthalten also das, was gedacht worden ist und was gedacht werden muss: welche Aktivitäten erfolgen müssen, damit die richtigen Voraussetzungen bzw. Ursachen geschaffen werden, die schließlich intendierte Wirkungen haben, die am Ende die vorsorgende Lebensgewinnung sicher stellen (vgl. Abb. 21). Die dreigliedrige zu denkende Struktur besitzt somit kausalen Charakter, der jedoch nicht schon »etwas in der Natur Vorfindliches«, sondern »erst mit der menschlichen Naturveränderung« (287) in die Welt gekommen ist. Dabei reichen die Operationen bis zu den zu schaffenden Voraussetzungen/Ursachen, deren Wirkungen erst durch den übergreifenden objektiven Handlungszusammenhang ihren Sinn bekommen, weil erst damit klar ist, was dort vergegenständlicht wird. Dies sei anhand der drei Handlungsaspekte verdeutlicht.
1. Stoffwechsel mit der Natur
In den Produkten sind kausale Naturzusammenhänge sachintentional vergegenständlicht. Die Aneignung erfordert das Erkennen der kausalen Struktur, die — obzwar vom Menschen geschaffen — »gleichzeitg … objektive, vom Menschen unabhängige Beschaffenheiten und Gesetzmäßigkeiten der Naturverhältnisse« (288) widerspiegeln. Das Feldbau-Beispiel verdeutlicht die Aktivitäts-Ursache-Wirkungs-Relation:
»Die Operation des ›Säens‹ im Frühjahr unter Verwendung des dazu unter bestimmten Umständen aufbewahrten ›Saatgutes‹ als ›Mittel‹ schafft hier die ›Ursachen‹, die ihrerseits als ›Wirkung‹ das Wachsen des Getreides und die Möglichkeit seiner Ernte im Herbst hervorbringen« (289)
Erst die übergreifende kooperativ-gesellschaftliche Herstellung der Lebensbedingungen durch Feldbau macht aus dem (aus unendlich vielen) herausgehobenen Naturzusammenhang »Saat-Getreide« einen kausalen, für die vorsorgende Lebensgewinnung nutzbaren Zusammenhang, der nun als solcher auch gedacht werden kann und muss:
»Die sich bildende ›Erkenntnis‹ steht hier also in Wechselwirkung mit der ›verallgemeinerten‹ Schaffung der Ausgangsumstände, die es der ›Natur‹, da hier ein in ihr liegender gesetzmäßiger Zusammenhang betroffen ist, quasi ›erlaubt‹, auf ebenso allgemeine Weise darauf zu antworten« (289)
Die mit der hergestellten Aktivitäts-Ursache-Wirkungs-Relation verbundene Denkform vollzieht drei wesentliche Leistungen:
- Verallgemeinern: Abbildung der Allgemeinheit (damit Wiederholbarkeit) zwischen Aktivitäten, Ursachen und Wirkungen
- Abstrahieren: Absehen von Unwesentlichem in den jeweils herzustellenden Kausal-Beziehungen (zur Realabstraktion vgl. Kap. 6.3)
- Vereindeutigen: Fokussierung der relevanten Bedeutungen als Voraussetzung für Kommunizierbarkeit der praktischen Begriffe und damit Entstehung der Sprache (vgl. auch Kap. 6.3)
2. Arbeitsteilung und individuelle Teilhabe
Neben den sachintentionalen besitzt die kooperative Form der Lebensgewinnung auch sozialintentionale Aspekte (vgl. Kap. 5.1). Die verallgemeinerte Herstellung der Lebensbedingungen, das Verallgemeinerte-Gemachtsein-Zu, enthält zwei personale kognitive Unterformen: den verallgemeinerten Produzenten, der die Bedingungen schafft, und den verallgemeinerten Nutzer, der seine Existenz durch Nutzung der geschaffenen Bedingungen erhält. Die sich herausbildenden personalen praktischen Begriffe sind ebenfalls Resultat des Verallgemeinerns, Abstrahierens und Vereindeutigens im Prozess der vorsorgenden Herstellung der Lebensbedingungen. Eine weitergehende kognitive Abstraktion ist der praktische Begriff des verallgemeinerten Anderen und die Erkenntnis, dass das Individuum selbst für andere der Andere ist. Das bedeutet auch, dass das Individuum sich als konkreten Fall eines verallgemeinerten Produzenten oder Nutzers erkennen kann.
Zur Veranschaulichung des bedeutenden Entwicklungsschritts, der in dieser Form der sozialen Abstraktion steckt, wird das Feldbau-Beispiel erneut herangezogen, zu dem eine »hypothetische Geschichte« (293) berichtet wird: Im Feldbau aktive Frauen hätten zunächst das Saatgut vor den Männern verstecken müssen, da diese (primär als Jäger aktiv) das Verallgemeinerte-Gemachtsein-Zu des Saatguts nicht begriffen hätten, sondern es als Nahrung unmittelbar zu verzehren trachteten. Sie konnten die Funktion des verallgemeinerten Produzenten, die die Frauen inne hatten, und den Mittel-Charakter des Saatguts für die Feldbau-Aktivität der Frauen, nicht verstehen:
»Indem die Frauen aufgrund ihrer höheren Einsicht in die kooperativ-gesellschaftlichen Ziel-Mittel-Konstellationen das Saatgut versteckten, setzten sie das Allgemeininteresse des Gemeinwesens gegen die bloß individuellen Interessen der Männer durch und handelten damit objektiv auch in deren Interesse an vorsorgender Lebenssicherung.« (294)
Später erreichten die Männer auf Grundlage der aus der Jagd entwickelten Viehzucht und den »in diesem Produktionszweig enthaltenen Denkformen … auch in ihrem individuellen Denken und Handeln das gleiche ›formale Niveau‹ … wie vormals nur die Frauen« (ebd.)
3. Allgemeine und individuelle Vorsorge
Das Feldbau-Beispiel verweist darauf, dass die langfristige, allgemeine Vorsorge und die kurzfristige, individuelle Existenz in einen Widerspruch zueinander geraten können. Als Denkanforderung für das Individuum bedeutet das, den Vorrang (»funktionalen Primat«, 294) des verallgemeinerten gegenüber dem bloß individuellen Nutzen und damit auch des verallgemeinerten Produzenten gegenüber dem verallgemeinerten Nutzer einsehen zu können:
»Indem das Individuum auf ›nichts weiter‹ aus ist … [als] auf seine ›menschliche‹ Existenzerhaltung, muß es zugleich die unaufhebbare Abhängigkeit der eigenen vorsorgenden Daseinssicherung von der kooperativ-gesellschaftlich vorsorgenden Daseinssicherung begreifen können (…) Nur wenn das Individuum so das … kognitive ›Niveau‹ erreicht hat, kann es ›wissen‹, was es zu seiner eigenen Existenzsicherung innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs … zu tun hat, damit auch, wodurch im kooperativ-gesellschaftlichen Lebens- und Bedeutungszusammenhang seine Existenz gefährdet sein kann.« (295)
Individuelle Vorsorge ist gleichbedeutend mit der Beteiligung an kooperativ-gesellschaftlicher Vorsorge. Ist das Individuum von der gemeinschaftichen Vorsorge ausgeschlossen oder ist der kooperative Vorsorgezusammenhang insgesamt gefährdet, so kann »die eigene Existenzbedrohung nur durch die Beteiligung an der Änderung der kooperativ-gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnisse überwunden werden« (296).
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[…] von einem selbstevidenten zu einem probematischen Prozess geworden. Das gilt sich auch für das in Kap. 7.6 dargestellte Denken von Handlungszusammenhängen. Der Zusammenhang von notwendigem Stoffwechsel mit […]