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Kritische Psychologie und Emanzipation

Von Denis Neumüller, Flavio Stein, Ranjana Schirin Kochanek & Stefan Meretz

Anlass für die Einladung zu einem Dialog im FKP-Spezial war der Eindruck der Redaktion, dass es innerhalb der Kritischen Psychologie verschiedene Untergruppen gäbe und dies auf der Ferienuni auch bemerkbar gewesen sei. Die Unterschiede dieser „Strömungen“ seien allerdings nicht ganz leicht zu fassen. Der folgende Dialog soll diesbezüglich ein wenig mehr Aufschluss bieten. Eine der erwähnten Gruppen wird mit den besonderen Schwerpunkten „Lebensführung / kollektive Selbstverständigung und Commonismus“ in Verbindung gebracht und Stefan Meretz als sichtbarer Vertreter dieser Gruppe ausgemacht.

Als Stefan Meretz von der Redaktion eingeladen wurde, einen Beitrag zu dieser Perspektive zu schreiben, leitete er die E-Mail an den Verteiler des „Netzwerks Kollektive Selbstverständigung“ weiter und bat um Beteiligung. Zunächst freuten wir uns, als Untergruppe mit diesen Themen wahrgenommen zu werden. Doch schnell kam auch Irritation und Verunsicherung auf: Wer ist dieses „wir“ denn überhaupt? Als homogene, abgrenzbare „Strömung“ möchten wir uns nicht sehen. Auch innerhalb unseres Diskussionszusammenhangs gibt es unterschiedliche Auffassungen, etwa hinsichtlich des Stellenwerts des marxschen Klassenbegriffs für gesellschaftliche Transformation sowie die Kategorialanalyse. Mit der hier vorgelegten Skizze können wir als Autor*innen nur eine Schnittmenge unserer eigenen Positionen darstellen und hoffen damit einen fruchtbaren Dialog über Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Weiterentwicklung der Kritischen Psychologie anzuregen. Im Folgenden wollen wir kurz rekonstruieren, wie wir dazu kamen, einige theoretische Grundlagen in Frage zu stellen.

Seit einigen Jahren gibt es einen fluiden Zusammenhang von Menschen, die sich mit der Kritischen Psychologie intensiv beschäftigen und versuchen, sie begrifflich-theoretisch wie auch in der praktischen Anwendung weiterzuentwickeln. Ausgangspunkt dieser Aktivitäten waren die Einführungsseminare in die Kritische Psychologie, die schon vor über zehn Jahren von Stefan Meretz im beschaulichen Ort Hiddinghausen angeboten wurden. Im Laufe der Jahre entwickelte sich daraus eine Veranstaltungsreihe mit dem übergreifenden Thema „Lebensführung und Transformation“. Die themenzentrierten Seminare wurden inhaltlich, methodisch und organisatorisch von den jeweils Teilnehmenden gemeinsam vorbereitet und gestaltet. Spezifische Schwerpunkte waren z.B. Emotionalität und Körper, Biografieforschung, Bedürfniskonzepte im Vergleich, Geschlechterverhältnis und Sexismus. Neben den jährlichen Seminaren gab es auch immer wieder kleinere Treffen und ein Seminar zur Auseinandersetzung mit „Analytischer Gruppentherapie“ sowie zur Reflexion psychologischer Berufspraxis. Auch auf den Ferienunis waren wir mit Workshops präsent. Da diesen Veranstaltungen auf der Ferienuni großes Interesse entgegengebracht wurde und es zunehmend Anfragen für Workshops in verschiedenen Städten gab, nannten wir unseren losen, offenen Zusammenhang „Netzwerk Kollektive Selbstverständigung“ und richteten eine Website für Informationen ein (selbstverstaendigung.de).

Ein wichtiges Charakteristikum der Seminare bestand darin, den Zugang zu den Themen stets sowohl von der Seite der subjektiven Erfahrungen und Problemstellungen der Teilnehmenden als auch von der Beschäftigung mit thematisch einschlägigen Theorien anzugehen – also ganz im Sinne der subjektwissenschaftlichen Methodik. Es ging uns um die „Anstrengung eines (gemeinsamen) Selbstverständigungsprojektes“ (Holzkamp 1995) über Themen der je eigenen Lebensführung, gleichzeitig um die Auseinandersetzung mit den gesellschaftstheoretischen und kategorialen Grundlagen sowie einzeltheoretischen Erkenntnissen der Kritischen Psychologie. Als zentrales praktisches Element bildete sich während der Seminare – u.a. inspiriert durch Veröffentlichungen der „Forschungsgruppe Lebensführung“ (im folgenden „FL“, vgl. dazu Osterkamp 2001, 2008 und FL 2003, 2004) – eine Gesprächspraxis heraus, die wir Kollektive Selbstverständigung (KSV) nannten (vgl. Meretz 2016). Diese Praxis soll dazu dienen, das widersprüchliche Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Emanzipation in eine gemeinsame Reflexion zu bringen. Praktischer ausgedrückt geht es um die Frage, welche Handlungsmöglichkeiten wir haben, um mit der Kluft zwischen emanzipatorischem Anspruch und alltäglicher Lebensführung im Kapitalismus umzugehen.

Am Anfang unserer Auseinandersetzung stand die dezidierte Beschäftigung mit Theorien der Emanzipation, d.h. mit (geschichts-)philosophischen und gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen des Denkens einer Aufhebung des Kapitalismus. Inspiriert durch Zugänge zur Marxschen Theorie, wie sie von Vertreter*innen der Wertkritik und der Neuen Marx Lektüre entwickelt wurden, sowie durch Teilnahme an Debatten um Commons bzw. Commonismus, diskutierten wir die Fragen, wie einerseits kapitalistische Herrschaft und andererseits eine radikale gesellschaftliche Transformation im widersprüchlichen Spannungsfeld dieser verschiedenen Ansätze auf den Begriff gebracht werden können.

Für uns war und ist es von großer Wichtigkeit, einen Begriff von Herrschaft zu gewinnen, der es erlaubt, die eigene alltägliche Eingebundenheit in die Herrschaftsverhältnisse und die darin liegenden Momente von Selbstfeindschaft zu fassen zu bekommen. Wir versuchten daher, einen genaueren Begriff restriktiver Handlungsfähigkeit zu gewinnen, der es ermöglicht, die eigene Teilhabe an der Reproduktion kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse zu thematisieren. Gleichzeitig geht es uns um einen inhaltlich qualifizierten Begriff verallgemeinerter Handlungsfähigkeit, der das Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Emanzipation aufschließbar macht. (s.u.)

Für uns ergaben sich Revisionen der Kapitalismuskritik sowie der Emanzipationsvorstellungen, wie sie für jene Strömungen zentral waren, die wir mit Elbe (2010) „traditionellen Marxismus“ nennen wollen. Diese Strömungen waren auch für die Kritische Psychologie in den 70er und 80er Jahren leitend. Zentrale Vertreter*innen der Kritischen Psychologie orientierten sich an DKP und SEW, die einen „orthodoxen“ Marxismus vertraten und mit den realsozialistischen Ländern solidarisch waren. Im gesellschaftstheoretischen Bezug, der in der „Grundlegung der Psychologie“ von Klaus Holzkamp (1983) für die Entwicklung der kritisch-psychologischen Kategorien der restriktiven/verallgemeinerten Handlungsfähigkeit grundlegend ist, wird dies deutlich.

Gesellschaftstheoretische Grundlagen

Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus gab es einige Impulse für eine kritische Revision der gesellschaftstheoretischen Grundlagen der Kritischen Psychologie. Diese wurden aber trotz einiger Anläufe, etwa beim 4. Kongress Kritische Psychologie 1997, unserer Ansicht nach kaum umgesetzt. Es gab einige Aktualisierungen, so etwa die Analyse des Neoliberalismus, jedoch wurden, so weit wir es überblicken können, keine Impulse aus „nicht-traditionellen“ Marxzugängen aufgenommen. Der Aufruf von Markard, „auch inner-marxistische Klärungsprozesse zur Kenntnis zu nehmen“ (Markard 2000) bezog sich u.E. bestenfalls auf eine Erweiterung der traditionellen Lesart. Währenddessen gewannen in der akademischen Linken poststrukturalistische Theorien an Bedeutung, und eine materialistisch fundierte Psychologie geriet immer mehr in den Hintergrund.

Gleichzeitig, so unser Eindruck, hat sich in der Kritischen Psychologie eine im Einzelnen durchaus inspirierende Differenzierung in einzelne Forschungsthemen entwickelt. Unserer Ansicht nach ging allerdings die übergreifende Klammer einer allgemeinmenschlichen Emanzipation, die in den Basiswerken der Kritischen Psychologie deutlich präsent ist, immer mehr verloren. Diese „Postmodernisierung“, wie wir das zugespitzt nennen möchten, zog der Kritischen Psychologie den eigenen emanzipatorischen Boden unter den kategorialen Füßen weg. Wir werden bei der Problematisierung des Begriffs der „erweiterten Handlungsfähigkeit“ darauf zurückkommen.

Wir möchten im Folgenden einige theoretische Konsequenzen, die sich für uns aus den ignorierten oder aus dem Diskurs exkludierten (Haug 2002) neomarxistischen Ansätzen (wie wir sie nennen wollen) ergeben, nur andeuten, da wir im Rahmen dieses Dialogs die versäumten „inner-marxistischen Klärungsprozesse“ nicht umfänglich nachholen können.

Im Zentrum traditioneller Marx-Lesarten steht die Kritik an privater Mehrwertaneignung (Ausbeutung) und Klassenverhältnissen (Herrschaft des Kapitals). Der Kapitalismus wird grundlegend als Klassengesellschaft verstanden. Dies begründet die Orientierung auf Organisationen der Arbeiter*innenbewegung, die Mehrwertumverteilung, Gegenmacht und perspektivisch Machtübernahme durch die Arbeiter*innenklasse anstreben. Aus Sicht neomarxistischer Theorien bewegt sich diese Orientierung im Rahmen der bürgerlichen Ordnung und ist für eine Überwindung des Kapitalismus nicht hinreichend. Stattdessen seien sowohl analytisch wie praktisch eine Kritik der Fundamente der kapitalistischen Produktionsweise in den Fokus zu nehmen, also die Tatsache, dass die vorsorgende Herstellung der Lebensbedingungen Waren- und Wertform annimmt. Für Marx ist es dieser „Wertcharakter der Arbeitsprodukte“, der bewirkt, dass die „gesellschaftliche Bewegung [der Austauschenden] … für sie die Form einer Bewegung von Sachen [besitzt], unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren“ (Marx 1973 [1890], 86). Der damit thematisierte Fetischismus führt dazu, dass sich Herrschaft nicht ursächlich der Kapitalist*innenklasse zuordnen lässt, sondern abstrakten „subjektlosen“ Charakter besitzt, der alle sozialen Verhältnisse durchzieht. Die Analyse von Klassenverhältnissen und Klassenkämpfen wird damit nicht obsolet, ist jedoch auf die Wert- und Warenform zu beziehen.

Markard ist zuzustimmen, wenn er proklamiert: „Aus unserer Sicht bspw. ist ein Forscher, der Kommunikationsprozesse nicht etwa mit der Warenform gesellschaftlicher Beziehungen vermittelt, methodisch gesehen auf dem Mond“ (1999, 9). Da Markard Kommunikationsprozesse hier nur als Beispiel anführt, ist die Aussage verallgemeinerbar: Eine Analyse der Warenform ist für eine kritische gesellschaftstheoretische Grundlage unverzichtbar. Gleichwohl gibt es in der Kritischen Psychologie keinen (sichtbaren) Bezug auf fetischismuskritische neomarxistische Ansätze, die genau diese Analyse ins Zentrum rücken. Plakativ gesagt führen eine traditionell-marxistische „immanente“ Mehrwertkritik und eine neomarxistisch inspirierte „fundamentale“ Waren- und Wertkritik zu unterschiedlichen Herrschaftsbegriffen und unterschiedlichen Vorstellungen einer Aufhebung des Kapitalismus, was wiederum Konsequenzen für kritisch-psychologische Theorie und Praxis hat. Diese These wollen wir ausführen.

Exklusionslogik und kapitalistische Herrschaft

Kapitalistische Herrschaft geht nicht in Klassenverhältnissen auf und gleichzeitig reicht es nicht aus, weitere Herrschaftsverhältnisse und Diskriminierungsformen (Sexismus, Rassismus, Ableismus, Ageismus etc.) nur additiv hinzuzufügen. In einer unserer zentralen theoretischen Überlegungen gehen wir davon aus, dass der Warenform in ihrer real gegensätzlichen Bewegung („Metamorphosen“ nannte es Marx) eine soziale Strukturierung der Gesellschaft in Gegensätzen entspricht, die (durch) Exklusionen erzeugt und von den Menschen in ihrem Alltagshandeln re/produziert wird. Diese Vermittlung zwischen gesellschaftlicher Struktur und nahegelegter Handlung brachten wir als Exklusionslogik auf den Begriff. Dass sich Menschen auf Kosten anderer durchsetzen, ist subjektiv funktionales Handeln, in Verhältnissen in denen die Erweiterung von Lebensmöglichkeiten für die einen strukturell vermittelt die Einschränkung von Lebensmöglichkeiten für andere bedeutet. So kann beispielsweise das laute dominante Reden von als Männern angesehenen Personen subjektiv funktionale Verhaltensweise sein, die ihnen Sichtbarkeit und damit Entwicklungsmöglichkeiten verschafft, während genau dies für „die anderen“ tendenziell eingeschränkt oder verhindert wird. Sexistisches Verhalten ist wie jedes Handeln begründet. Seine restriktive Funktionalität gewinnt ein solches Verhalten innerhalb einer sexistischen gesellschaftlichen Matrix, die Teil einer allgemeinen exklusionslogischen Handlungsmatrix ist. Darin ist es gesellschaftlich nahegelegt und subjektiv naheliegend (gleichzeitig nicht zwingend), sich auf Kosten von anderen durchzusetzen und dies gerade auch dann, wenn die anderen unsichtbar sind – etwa, weil der Zusammenhang mit diesen nicht interpersonal (konkrete andere), sondern transpersonal (allgemeine andere) vermittelt ist.

Diese Ausführungen sollen in aller Kürze andeuten, welche „allgemeinen Strukturmerkmale der bürgerlichen Gesellschaft“ (ebd., 367) wir als Voraussetzung für die Weiterentwicklung der kritisch-psychologischen Vermittlungskategorien ansehen. Im Sinne Holzkamps Vorgehen der Begriffsentwicklung müsste sicherlich detaillierter ausgearbeitet werden, welche Auswirkungen unsere alternativen gesellschaftstheoretischen Bestimmungen auf die Ebene der Bedeutungen und Denkformen hat. Auf der Ebene der Handlungsgründe ergaben sich für uns Verschiebungen der inhaltlichen Bestimmungen der restriktiven/verallgemeinerten Handlungsfähigkeit, die uns – wie oben erwähnt – für die Kollektive Selbstverständigung notwendig erschienen.

Handlungsfähigkeit im Kapitalismus revisited

Die Kategorie der restriktiven Handlungsfähigkeit hat den Zweck, die eigene Teilhabe an der Reproduktion kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse thematisieren zu können. In den Worten des späten Holzkamp verstehen wir Herrschaft „nicht als klare Trennung zwischen ‚Mächtigen‘ und ‚Ohnmächtigen‘, sondern als Verteilung von Machtbeziehungen innerhalb alltäglicher Durchsetzungs- und Abwehrstrategien, wie sie Foucault immer wieder hervorgehoben hat (und wie sie für unsere weiteren Überlegungen noch große Relevanz erlangen werden)“ (1995, 839f). Wir verstehen Herrschaft also als ein inneres Strukturverhältnis, das durch mich hindurch geht und somit auch von mir erhalten und „gemacht“ wird.

Der Fassung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit als analytischem Gegenbegriff zur restriktiven Handlungsfähigkeit komme laut Holzkamp der Charakter einer „Richtungsbestimmung“ (1984, 37) zu. In vielen Texten der 70er und 80er Jahre wurde mit dieser Richtung die Orientierung an traditionellen Organisationen der Arbeiter*innenbewegung assoziiert, die – wie oben beschrieben – eine kollektive Gegenmacht im „Allgemeininteresse“ (vgl. Holzkamp 1980) gegen die Kapitalherrschaft aufbringen könne. In späteren kritisch-psychologischen Texten ist diese Tendenz deutlich weniger präsent. Vom „Kommando des Kapitals als herrschender Klasse“ (Holzkamp 1983, 201) und der „Gegenmacht“ der „ausgebeuteten Klasse“ (ebd.) ist nicht mehr die Rede. Gleichzeitig stellen wir fest, dass in einigen Texten (z.B. Büsse 2011, Nowak et al. 2012, Kierstein 2013, aktuell Eckart & Serko 2018) die verallgemeinerte zur „erweiterten Handlungsfähigkeit“ gemacht wurde. Das (bis dahin eigentlich untergeordnete) Kriterium der Erweiterbarkeit der Handlungsmöglichkeiten scheint das der Verallgemeinerbarkeit der Richtung abzulösen. Diese Tendenz meinen wir unter anderem, wenn wir oben von der Postmodernisierung der Kritischen Psychologie schreiben: Ein Verblassen der emanzipatorischen Stoßrichtung geht mit einer Fragmentierung in ungerichtete „Erweiterungen“ einher.

Für uns ist diese Fassung unbefriedigend. Wir versuchen uns eine neue inhaltliche Bestimmung zu erschließen, um den emanzipatorischen Gehalt der Kritischen Psychologie – wie er sich unter anderem in der Kategorie der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit ausdrückt – zu reaktualisieren. Markard (2000) zitiert Johannes Agnoli: „Die Orientierung an der Utopie ist der einzig reale Ausweg aus der Inhumanität, in der sich die Weltgesellschaft befindet“ („Die Zeit“, 17.2.2000). Agnoli ist zuzustimmen, doch anstatt allgemeiner Anrufung braucht diese Orientierung (oder: Richtung) u.E. eine Bestimmung der Utopie. Anders ausgedrückt: Wir halten es für zentral, uns darüber zu verständigen, was eine vom Kapitalismus befreite oder „freie Gesellschaft“ sein kann – im Unterschied übrigens zu den meisten der o.g. neomarxistischen Ansätze. Diese Verständigung findet für uns besonders im Zusammenhang des Commons-Instituts (commons-institut.org) statt, mit dem das Netzwerk Kollektive Selbstverständigung einige personelle Überschneidungen hat. Die Debatten um Commons und Commonismus inspirierten uns, über eine gesellschaftliche Transformation zu einer freien Gesellschaft neu nachzudenken. Ein Resultat dieser Diskussionen stellt das Buch „Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken“ von Sutterlütti und Meretz (2018) dar. In diesem Buch wird argumentiert, dass eine Bestimmung der freien Gesellschaft nicht auf einer Ebene des „Auspinselns“, nicht als beliebiges Wünsch-dir-was, sondern sinnvoller Weise nur auf der Ebene kategorialer Bestimmungen geschehen kann.

In dieser kategorialen Entwicklung der Rahmenbedingungen einer freien Gesellschaft bekommt die Kategorie der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit wieder eine Richtung – eine reaktualisierte Richtungsbestimmung, die u.E. allerdings Konsequenzen für die analytische Qualität des Kategorienpaars der restriktiven und verallgemeinerten Handlungsfähigkeit insgesamt hat. So argumentieren wir, dass eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten nicht automatisch verallgemeinerbar ist, sondern häufig zwar tatsächlich die Handlungsmöglichkeiten der einen erweitert, dies jedoch nur auf Kosten anderer Menschen erreicht, die u.U. gar nicht im Blick sind. Umgekehrt könnte die Frage nach verallgemeinerbaren Momenten des Handelns die nach dem potenziellen Einschluss der anderen in diese erweiterten Handlungsmöglichkeiten sein – bis hin zu einer Gesellschaft der allgemeinen Inklusion. Eine ausführlichere Begründung haben Neumüller und Meretz (2019) entwickelt – aus Platzgründen können wir dies hier nur andeuten.

Wenn die basale Herrschaftsstruktur als Exklusionslogik gefasst werden kann, in der es subjektiv funktional ist, sich auf Kosten anderer zu entwickeln, dann lässt sich mit der Inklusionslogik ein Vermittlungszusammenhang formulieren, in dem die „freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, wie Marx und Engels es im Kommunistischen Manifest ausdrückten. Solche alle Menschen inkludierenden Strukturverhältnisse haben wir nicht, doch sie geben dem unbestimmten Begriff der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit eine Richtung, deren Momente bereits in der aktuellen Situationen gefunden werden können. Es ist nicht nur so, dass wir mit unserem alltäglichen Handeln die exklusionslogisch strukturierten Herrschaftsverhältnisse reproduzieren, sondern gleichzeitig können Momente sichtbar gemacht werden, die auf allgemeine Inklusionsverhältnisse zielen. Die analytische Qualität des Doppelbegriffs der restriktiven/verallgemeinerten Handlungsfähigkeit liegt also darin, die exkludierenden und damit tendenziell selbstfeindschaftlichen und die inkludierenden und damit tendenziell selbstentfaltenden Momente unseres alltäglichen Handelns sichtbar zu machen. Dabei geht es durchaus um Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten, doch diese sind auf ihre Wirkung – Einbindung/Reproduktion vs. Überschreitung/Widerständigkeit – im dominanten gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang hin zu analysieren. Durch unsere inhaltlichen Konkretisierungen (die wir weiter ausarbeiten möchten und deren Auswirkungen auf die psychischen Funktionen noch unterbelichtet sind) erhält die Analyse von Handlungsbegründungen alltäglicher Lebensführung, „die im Ergebnis je offen“ und von dem Begriffspaar „kategorial veranlasst“ (Markard 2006, 121) ist, unserer Ansicht nach einen aktualisierten emanzipatorischen Gehalt.

Konsequenzen für die Praxis kollektiver Selbstverständigung

Zum Abschluss wollen wir einige Konsequenzen unserer Überlegungen für die Praxis kurz beleuchten. Statt unser Handeln daraufhin zu befragen, worin jeweils das „Arrangement mit den Herrschenden“ (vgl. Holzkamp 1983) besteht und damit die problematische Zweiteilung in „Herrschende“ und „Beherrschte“ zu reproduzieren, können wir unsere vielfache Eingebundenheit in Herrschaftsverhältnisse und deren psychische Implikationen anhand der aktualisierten Kategorie der restriktiven Handlungsfähigkeit potentiell in ihrer realen Komplexität analysieren. Dies schließt unsere jeweilige Lage und Position, auch entlang von Klassengrenzen, ebenso ein, wie andere relevante Herrschaftsdimensionen. Ausgangspunkt ist dabei stets je mein Interesse an einer Selbstaufklärung, das sich aus Erfahrungen des Leidens, der Unfreiheit, des Konflikts sowie einer Vorahnung der eigenen Selbstfeindschaft oder aufgrund der Problematisierung meines Handelns durch davon Betroffene ergibt. Überdies bietet die o.g. inhaltliche Konkretisierung der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit auch eine Orientierung bei der Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten und -begründungen, ohne dabei der Illusion widerspruchsfreier „Lösungen“ oder einer unvermittelten individuellen bzw. interpersonalen Lösbarkeit aufzusitzen.

Unsere Lebensführung lässt sich danach befragen, wo Spielräume für eine kooperative Verfügungserweiterung und die Schaffung von partiellen Inklusionsstrukturen liegen und welche Einschränkungen uns an deren Realisierung hindern. Damit jedoch ist die Analyserichtung nicht ausschließlich negativ auf die „Klärung der Einbezogenheit des eigenen Verhaltens in bestehende Machtverhältnisse“ (FL 2003) ausgerichtet, sondern ebenso auf Möglichkeiten der „gemeinsamen Einflussnahme“ (ebd.) auf die Verhältnisse, am Maßstab der Verallgemeinerbarkeit positiv-reziproker Beziehungen (Sutterlütti & Meretz 2018). Anders als die Forschungsgruppe Lebensführung beschränken wir uns dabei nicht auf eine „Selbstverständigung über die Grundlagen subjektwissenschaftlicher Forschung“ (2003), sondern machen unsere jeweilige Lebensführung im umfassenden Sinne zum Gegenstand. Dies mag damit zu tun haben, dass es uns nicht primär um die Produktion und Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse geht, sondern durchaus auch um die „alltagspraktische“ Beschäftigung mit Problemen unserer Lebensführung, von der sich Huck (2006) in Bezug auf die Praxis der FL, explizit abgrenzt.

In seinem selbstkritischen Artikel (ebd.) beschreibt Huck die Verwendung transkribierter Audioaufnahmen als Material für weitere Gespräche (siehe auch FL 2005). Diese „Dokumentationspraxis hat u.a. den Sinn ‚Abwehr‘ als solche erkennbar zu machen: Sie erlaubt es nämlich, die allfällige Behauptung zu objektivieren, Problematisches gar nicht oder zumindest ‚nicht so‘, wie von Anderen behauptet, gesagt zu haben“ (Huck 2006, 130). Gleichzeitig beobachtet die FL: „Die Frage, wie man Probleme so darstellen kann, dass sich Andere angesprochen, aber nicht persönlich angegriffen fühlen, ist offensichtlich noch unbeantwortet“ (FL 2004, 22). Werde es konkret, sähen sich die betroffenen Personen „vorgeführt“ und unter „Rechtfertigungszwang“; würden die Probleme hingegen „abstrakt“ und „am Beispiel Anderer“ diskutiert, bleibe die Diskussion unverbindlich. Auffällig ist hier der eingenommene Drittstandpunkt, der sonst vehement als Problem der Selbstverständigung kritisiert wird. Holzkamp hebt hervor, dass es „im Kontext gemeinsamer Selbstverständigung niemals heißen kann, sich gegenseitig, oder sogar einem zu diesem Zweck zurechtgestellten Anderen ‚auf die Schliche zu kommen‘“ (1995, 836). Ziel könne es nicht sein „‚Abwehr‘ als solche“ – also bei anderen – zu erkennen, sondern mir die Möglichkeiten zu verschaffen, meine eigene Abwehr zu erkennen.

Nach den Erfahrungen in der KSV geht es nicht darum, die Probleme so darzustellen, dass sich andere angesprochen fühlen, sondern sie so thematisieren, dass ich mich angesprochen fühle, also selbst Worte dafür zu finden, wie ich die Problematik wahrnehme. Dies gilt sowohl für (scheinbar bloß) individuelle Problematiken wie für Konflikte zwischen Personen. Doch wie kann das gehen, wenn mir niemand mit objektivierten Mitteln nachweist, dass ich abwehre? Huck formuliert die These: „Um ‚Abwehr‘ zu erkennen, bin ‚ich‘ also einerseits auf die anderen Beteiligten angewiesen, habe aber andererseits gerade dadurch immer die Möglichkeit, die ‚Abwehr‘-Hypothese [der anderen über mich] quasi auf höherem Niveau ‚abzuwehren‘, nämlich die Kritik Anderer als Versuch zu diffamieren, ‚meine‘ Subjektivität zu negieren, ‚mir‘ Irrationalität zu unterstellen etc. – eine Möglichkeit, auf die man, wie unseren kritischen Situationen nur allzu gern zurückgreift“ (2006, 131). Die mögliche Abwehr-Unterstellung ist im Medium des Drittstandpunkts nicht aufklärbar: „Eine Möglichkeit positive Gewissheit zu erlangen, ein für alle Mal zwischen unterschiedlichen Begründungstheorien zu entscheiden, sehe ich jedoch nicht“ (ebd.). Richtig, denn in Begründungstheorien geht es immer um meine Begründungen, die ich mir ggf. in ihrem abwehrenden Charakter aufschließen kann etc. Dabei ist es sicherlich richtig, dass ich in der Selbstverständigung „auf die anderen Beteiligten“ angewiesen bin, wie Huck meint, doch es handelt sich immer noch um eine Selbst- und nicht um eine Fremdverständigung. Holzkamps Aussage ist somit in ihrer vollen Radikalität anzunehmen und umzusetzen: „Zwar kann man sich bei seinen Selbstverständigungsbemühungen gegenseitig unterstützen, diese selbst sind aber, wie dargelegt, unausweichlich an je meinen Subjektstandpunkt gebunden, so daß andere, wenn sie mich ‚über meinen Kopf hinweg‘ verstehen und beurteilen wollen, mich tatsächlich aus dem intersubjektiven Verständigungsrahmen ausgrenzen, d.h. mir – indem sie mich zum ‚Objekt‘ ihrer (wie immer zu legitimierenden) Interessen machen – den Status der Mitmenschlichkeit verweigern“ (Holzkamp 1995, 836).

Eine Idee, wie kollektive Selbstverständigung gehen kann, entwickelt Huck am Ende seines Textes: „Weit wichtiger scheint mir (auch in praktischer Hinsicht), sich mit den konkret Betroffenen über die Auswirkungen des eigenen Handelns zu verständigen“ (ebd., 132). Aus diesen Gründen legen wir in unserer Entwicklung der Praxis kollektiver Selbstverständigung den Schwerpunkt auf die gemeinsame Gestaltung unterstützender Rahmenbedingungen und Methoden, die eine selbstkritische Problematisierung der eigenen Lebensführung im Begründungsdiskurs begünstigen. Dabei bietet der konkretisierte Begriff verallgemeinerter Handlungsfähigkeit eine hilfreiche Orientierung. Offensichtlich trägt eine solche Ausrichtung auch zur Bildung und Vertiefung freundschaftlicher Beziehungen bei, was sich wiederum in der oben beschriebenen Organisationsform des informellen Netzwerks niederschlägt. Gleichwohl wollen wir den Anspruch an subjektwissenschaftliche Forschung, verallgemeinerbare Erkenntnisse zu produzieren und uns an fachlichen Diskussionen zu beteiligen, sei es auf der Ferienuni oder in Form von Veröffentlichungen, nicht aus den Augen verlieren. Wir hoffen, dass dieser Dialog dabei einen weiteren Schritt darstellt.

Literatur

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