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7. Wahrnehmung, Emotion, Motivation (Hominini)

Nach der Rekonstruktion der neuen inhaltlichen Beziehung des handelnden (vorher: aktiven) Individuums zur sich herausbildenden gesellschaftlichen Realität (vorher: Umwelt) folgt nun die Darstellung der kognitiven, emotionalen und motivationalen Funktionen des Psychischen — die funktionale Kategorialanalyse.

Abb. 18: Von der Orientierungs-Aktivitäts-Koordination zum Wahrnehmungs-Handlungs-Zusammenhang (Klicken zum Vergrößern).

Wir setzen an den in Kapitel 3.1 vorgestellten elementaren Orientierungsfunktionen an: Gradienten-Orientierung, Aussonderung/Identifizierung und Diskrimination/Gliederung. Im gegenwärtigen Entwicklungskontext nach dem Funktionswechsel, der Zweck-Mittel-Umkehrung, aber noch vor dem Dominanzwechsel zur gesellschaftlichen Natur des Menschen können die psychischen Funktionen im bisherigen funktional-historischen Verfahren rekonstruiert werden. Allerdings wird dort eine Analysegrenze erreicht, wo die elementaren Funktionen im Zuge der Menschwerdung eine Eigenevolution durchmachen und somit — obwohl unspezifisch — ausschließlich dem Menschen zukommen. Solche unspezifischen Funktionen können folglich auch nur aktualempirisch am gegenwärtigen Menschen erforscht werden. Die damit angesprochene Problematik wird in Kapitel 14 noch ausführlicher diskutiert werden.

In der GdP wird an dieser Stelle (S. 251f) eine terminologische Differenzierung der Orientierungs-Aktivitäts-Koordination eingeführt (vgl. Abb. 18). So sollen frühe phylogenetische Entwicklungsstadien vom erreichten Stand nach dem Funktionswechsel abgehoben werden. Auf (vor-) menschlichem Niveau ist — sofern es um unspezifische Elementarfunktionen geht — von der Perzeptions-Operations-Koordination die Rede. Die spezifisch-menschliche Form, die die gesellschaftliche Natur des Menschen kennzeichnet, wird hingegen als Wahrnehmungs-Handlungs-Zusammenhang bezeichnet. Im Folgenden wird diese bloße terminologische Unterscheidung noch inhaltlich gefüllt.

7.1 Evolutionäre Grundlagen der Wahrnehmung

Wir beginnen mit den drei elementaren Orientierungsformen wie sie in Kapitel 3.1 in Abb. 5 illustriert worden sind. Sie sollen nun für die (vor-) menschliche Stufe der Perzeptions-Operations-Koordination diskutiert werden.

Die Gradientenorientierung ermöglicht mittels Bewegung entlang eines Gradienten eine Richtungssteuerung, wobei die emotionale Wertung lediglich einen On-Off- und — falls es zur Aktivität kommt — einen Beschleunigungseffekt hat. Mittels der Aussonderung/Identifizierung ist es dann möglich, ein vom Untergrund abgehobenes »Ding« in Distanz zur Sinnesfläche zu erfassen. Auf dieser Grundlage kommt es zu einer Verselbstständigung der Orientierungs- von den Ausführungsaktivitäten, wobei die Ergebnisse der orientierten Umweltinformationen verinnerlicht und im zentralen Nervensystem gespeichert werden. Dabei werden die Informationen nicht nur passiv von der Umwelt empfangen, sondern »in für die Lebenserhaltung ›funktionaler‹ Weise aus der Umwelt ›herausgeholt‹« (253).

Abb. 19: Entwicklung der elementaren Orientierungsfunktionen bis zum Menschen (Klicken zum Vergrößern).

Diese beiden einfachen Orientierungsformen sind als unspezifische Grundlage nach wie vor im menschlichen Erkenntnisprozess nachweisbar (vgl. zu den weiteren Erläuterungen jeweils Abb. 19). Bei stark eingeschränkten Orientierungsbedingungen (Dunkelheit etc.) kann auf sie als »Fallback« zurückgegriffen werden (Orientierung an einem Lichtpunkt in der Dunkelheit etc.). Beide Formen haben auf dem Weg zur Menschwerdung eine Eigenevolution durchlaufen und sind somit als solche nicht unmittelbar mit entsprechenden tierischen Funktionen vergleichbar. Inwieweit Analogien zulässig sind, ist eine aktualempirisch zu klärende Fragestellung.

Die Orientierungsform der Diskrimination/Gliederung ermöglicht eine sachliche Gliederung des Orientierungsfelds, in dem verschiedene, gleichzeitig vorhandene Bedeutungen diskriminiert werden können. Durch Realabstraktion werden dabei artspezifisch relevante gegenüber irrelevanten Merkmalen in der Orientierung herausgehoben. Die Diskriminations- und Gliederungsfunktion ist im Unterschied zu den beiden einfacheren Formen vollständig in den Prozess der Menschwerdung einbezogen und kommt in der ursprünglich-elementaren Ausprägungsform beim Menschen nicht mehr vor. Sie wurde sie im Zuge der Herausbildung der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit (vgl. Kapitel 4) evolutionär verändert, wobei hierbei die beiden Lernformen zu unterscheiden sind:

  • subsidiäres Lernen bezogen auf Primärbedeutungen
  • autarkes Lernen bezogen auf Mittelbedeutungen

Subsidiäres Differenzierungslernen (als selektive Differenzierung bezeichnet) bezog sich auf festgelegte primäre Bedeutungseinheiten, deren realabstraktive Ausgliederung durch Erfahrungen modifiziert werden konnte. Auch beim Menschen existieren solche biotisch präformierten Schlüsselkonstellationen, deren Bevorzugungen subsidiär gelernt werden. Im Bereich der sexuellen Primärbedeutungen sind dies bestimmte Körper- und Bewegungsmerkmale, die lediglich subsidiär gesellschaftlich hervorgehoben oder unterdrückt werden — etwa in Form von wiederkehrenden »Moden« dessen, was als sexuell attraktiv oder unakzeptabel gilt. Im Bereich der existenzsichernden Primärbedeutungen sind dies zum Beispiel gesellschaftlich-kulturell überformte Vorstellungen dessen, was als »essbar« ist und in welcher Form »gegessen« wird.

Durch subsidiäres Lernen modifizierte Schlüsselkonstellationen sind jedoch nur unselbstständige Momente innerhalb von den (autark gelernten) Mittelbedeutungen her strukturierten Wahrnehmungen, die für die gesellschaftliche Natur des Menschen bestimmend werden:

»als Akzentuierung und Zusammenschluß von Merkmalskombinationen, die Wärme, Trockenheit, Licht, Atemluft, Ruhe, soziale Einbettung etc., mithin elementare Grundbedingungen menschlicher Existenzerhaltung ›bedeuten‹« (259)

Die Veränderung individueller Erkenntnisprozesse durch autarkes Lernen wird im nächsten Teilkapitel behandelt.

7.2 Evolutionäre Grundlagen des Denkens

Das Denken entsteht evolutionär aus der Orientierung, genauer: aus autark gelernten — sachlichen und zeitlichen — Antizipationen (Vorausahnungen). Dazu zunächst eine kurze Rekapitulation.

Vorläufer des autarken Antizipations-Lernens ist die noch ungerichtete Suchaktivität der Tiere zum Erkunden der Umwelt (vgl. Kap. 3.4). Der Widerspruch zwischen der relativ geringen Effektivität ungerichteter Suchaktivitäten und ihrer hohen Relevanz für das Überleben der Population wird durch die Herausbildung der Fähigkeit zum individuellen Lernen von Orientierungsbedeutungen aufgehoben:

»Damit wurde die ›Antizipation‹, die bisher nur ›gemittelt‹ in der genomischen Information beschlossen war, zu einer individuellen Fähigkeit bei der Orientierungsaktivität des einzelnen Tieres.« (261)

Was ist damit gemeint? Ungerichtete Suchaktivitäten sind dann erfolgreich, wenn artspezifische Schlüsselreize »gefunden« werden und überlebensrelevante Aktivitäten auslösen. Die objektive Antizipation liegt hierbei im Herstellen einer zukünftigen Begegnung mit dem Schlüsselreiz. Sie ist Teil des genomisch verankerten, artspezifischen Aktivitätsrepertoires in der entsprechenden Umwelt, die für die Population in »gemittelter« Weise zur Verfügung stehen.

Durch Lernen erworbene und sekundär automatisiert gespeicherte Aktivitäten verschieben die Antizipation auf die Ebene des Individuums — eine ungleich effektivere Möglichkeit, die Differenz zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Situationen zu verringern. Im Lernen solcher Antizipationen liegt

»der erste Ansatz zum Auseinandertreten von auf Gegenwärtiges und auf Repräsentiertes (›Vergegenwärtigtes‹) bezogener Orientierung in Richtung auf die Ausdifferenzierung von ›Wahrnehmen‹ und ›Denken‹« (261)

Mit dem Prüfen und dem Probieren und Beobachten entsteht eine neue rückgekoppelte Qualität der Orientierungs-Aktivitäts-Koordination. Sachliche und zeitliche Relationen werden nicht mehr nur aufgesucht, sondern gezielt herbeigeführt. Antizipierend gebildete Hypothesen über Effekte von manipulativen Einwirkungen auf Dinge können überprüft und in ihrem Ergebnis im Individualgedächtnis gespeichert werden. So entfaltet sich das Denken

»als Wechselspiel zwischen der ›inneren‹ Vergegenwärtigung von Zusammenhängen und ihrer ›Materialisierung‹ in der Beobachtung und Verarbeitung systematisch hergestellter Effekte des eigenen Tuns, also zwischen gedanklicher und praktischer Antizipation« (265)

Auch hier ist wieder hervorzuheben, dass die geschilderten Aktivitäten keinerlei Bewusstsein voraussetzen, sondern dieses ist erst Resultat der weiteren Entwicklung. Zentral für die Regulation der Aktivitäten ist die orientierungsleitende Funktion der Emotionalität (vgl. Kap. 3.5). Die emotionalen Erfahrungen mit bestimmten Bedeutungseinheiten und den damit verbundenen antizipierbaren Befriedigungs- und Bedrohungssituationen werden zusammen abgespeichert. Sie stehen damit vor einer Aktivität als antizipierte emotionale Wertung zukünftiger Situationen vor der Aktivitätsausführung zur Verfügung. Die so gefasste Motivation ist

»der emotionale Aspekt des genetischen [entwickungslogischen] Auseinandertretens von präsenz- und zukunftsbezogener Orientierung, also der allmählichen Ausdifferenzierung des ›Denkens‹« (263)

Kurz: Die Motivation ist die emotionale Seite des Denkens. Diese Bestimmung gilt jedoch erst vollumfänglich für das menschliche Denken (in Kap. 10).

7.3 Kooperativ-gesellschaftliche Zielkonstellationen

Auf der Stufe der Sozialkoordination und Sozialintentionalität (Kap. 5.1), also noch vor dem Funktionswechsel der Zweck-Mittel-Umkehrung (Kap. 5.2), beziehen sich die Antizipationen nicht nur auf individuelle, sondern auf über mehrere Individuen verteilte überindividuelle Aktivitätssequenzen. Anhand des Jäger-Treiber-Beispiels wurde gezeigt, dass die individuelle Aktivitätssequenz etwa des Treibers nicht aus sich heraus, sondern nur als Teil einer übergreifenden koordinierten Aktivität des Jagens kognitiv erfasst und emotional gewertet werden kann:

»Nur daraus, daß er die Teilsequenz der Gesamtaktivität über die individuelle Sequenz, die er beisteuert, hinaus bis zur Teilung der Beute nach Beendigung der Jagd antizipiert, ist begreiflich, daß er seinen Beitrag zur richtigen Zeit in der richtigen Weise ausführt bzw. daß er hier überhaupt zum Aktivwerden motiviert ist.« (267)

Im Individualgedächtnis werden folglich die überindividuellen Aktivitätsstrukturen gespeichert, damit sie im passenden kollektiven Aktivitätskontext abgerufen werden können. Damit wird der eigene Aktivitätsbeitrag zur unselbständigen Perzeptions-Operations-Einheit (vgl. Kap. 7.1) innerhalb einer koordinierten Aktivität, an der das Individuum beteiligt ist.

Nach der Zweck-Mittel-Umkehrung verlieren die überindividuellen Antizipationen ihren Ad-hoc-Charakter in dem Maße wie sich durch den Einsatz von Arbeitsmitteln bei der vorsorgend-verallgemeinerten Schaffung von Lebensbedingungen kooperative Strukturen durchsetzen. In der Sozialkooperation (vgl. dazu Abb. 17) ist

»…in den kooperativen Bedeutungsstrukturen selbst in generalisierter Weise antizipiert, was zu welcher Zeit auf welche Weise von den Mitgliedern der Gesellungseinheit getan werden muß, damit für die Existenzsicherung jedes Einzelnen unter den jeweils konkreten Verhältnissen vorgesorgt ist« (268)

In den Arbeitsmitteln sind jene Mittelbedeutungen (vgl. Kap. 6.1) vergegenständlicht, die über ihre verallgemeinerten Brauchbarkeiten auf die notwendigen Aktivitäten der Lebensgewinnung verweisen. Solche antizipatorischen vergegenständlichten Notwendigkeiten verallgemeinerter Vorsorge werden kooperative Zielkonstellationen und mit der fortschreitenden Entfaltung der Gesellschaftlichkeit gesellschaftliche Zielkonstellationen genannt.

In der GdP wird damit ein besonderer Ziel-Begriff verwendet, der objektive Zielkonstellationen und individuelle Ziele unterscheidet. Objektive Ziele ergeben sich aus den kooperativen bzw. gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen, die den Vermittlungszusammenhang bilden, in dem das Individuum seine Existenz erhält und individuelle Ziele des Handelns bildet. Dabei beziehen sich die individuellen Handlungen stets auf die kooperativen bzw. gesellschaftlichen Zielkonstellationen. Damit wird zugleich deutlich:

Abb. 20: Träger der Antizipationen in der evolutionären Entwicklung (Klicken zum Vergrößern).

»Vermeintlich individuelle Ziele als Antizipationen auf dem Niveau von Perzeptions-Operations-Sequenzen sind … in Wahrheit notwendige Teilziele übergeordneter kooperativer bzw. gesellschaftlicher Handlungsziele des Individuums — gleichviel, ob das Individuum sich dessen bewußt ist oder nicht, ob es dabei die gesellschaftlichen Zielkonstellationen akzeptiert, negiert oder ändern will etc.« (268)

Rekapitulierend wird die zentrale Bedeutung der Antizipationen deutlich (vgl. dazu Abb. 20). In der evolutionären Entwicklung besaßen diese unterschiedliche Träger. Zunächst waren sie implizit mit dem Bedarf als biotisch-objektiver Vorsorgefunktion zunächst nur über die Populationsentwicklung gemittelt im Genom verankert (u.a. Kap. 3.4). Das autarke Lernen (Kap. 4.3) als individuelles antizipatorisches Signallernen machte das Individuum zum Zentrum der Antizipationen. Mit der Entwicklung von Sozialkoordinationen bezogen sich die Antipationen dann auf überindividuelle Aktivitätssequenzen, die schließlich nach der Zweck-Mittel-Umkehrung von kontinuierlichen kooperativen Bedeutungsstrukturen der mit Arbeitsmitteln geschaffenen Lebensbedingungen für die allgemeine Vorsorge abgelöst wurden. Mit der Dominanz der Gesellschaftlichkeit schließlich verallgemeinern sich die kooperativen zu gesellschaftlichen Zielkonstellationen, die in verallgemeinerter Weise die antizipierten vergegenständlichten Handlungsnotwendigkeiten repräsentieren.

7.4 Operationen, Handlungen und Kooperation

Abb. 18: Von der Orientierungs-Aktivitäts-Koordination zum Wahrnehmungs-Handlungs-Zusammenhang (Klicken zum Vergrößern).

Im letzten Kaptitel (7.3) wurden die kooperativen bzw. gesellschaftlichen Zielkonstellationen als übergeordneter objektiver Handlungszusammenhang bestimmt, dessen Realisierungen die (Teil-) Handlungen des Individuums sind. Die individuell-antizipatorisch regulierten Aktivitäten, wie sie sich aus dem autarken Lernen entwickelten (vgl. Kap. 4.3), gehen mit der Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen jedoch nicht einfach in den Handlungen auf, sondern entwickeln sich als untergeordnete und selbstständige Ebene von Operationen.

Zur Erinnerung sei noch einmal Abb. 18 wiedergegeben, wobei die in Kap. 7 getroffene bloß terminologische Unterscheidung des Zusammenhangs von Aktivitäten und Orientierungen, Operationen und Perzeptionen sowie Handlungen und Wahrnehmungen nun inhaltlich verdeutlicht werden soll.

Wie in Kap. 6.1 dargestellt, entwickeln sich die gelernten Orientierungsbedeutungen nach der Zweck-Mittel-Umkehrung zu Mittelbedeutungen bei der verallgemeinerten Herstellung von Arbeitsmitteln, wobei der Hergestelltheits-Aspekt gegenüber dem Brauchbarkeits-Aspekt bestimmend ist. Die individuellen Antizipationen auf der Ebene der Operationen erhalten ihre Struktur und Ausrichtung durch die übergeordneten Handlungszusammenhänge, in denen die Herstellung der verallgemeinerten Gebrauchszwecke objektiv antizipiert ist:

»Den verallgemeinerten Gebrauchszweck muß man (gemäß dem berühmten Marxschen Baumeister-Bienen-Beispiel [MEW 23, S. 193]) vorher ›in seinem Kopf‹ haben, ehe man seine Herstellung antizipieren und realisieren kann; und in den ›Kopf‹ kommt er aus übergeordneten Handlungszusammenhängen, zunächst auf dem Wege über ›kooperatives‹ Beobachtungslernen, dann (mit der weiteren Menschwerdung) immer mehr auch als sprachlich-symbolischer kommunizierter ›praktischer Begriff‹« (270)

Durch den angeeigneten praktischen Begriff (vgl. Kap. 6.3) »weiß« das Individuum, was das Ergebnis der Herstell-Operationen sein soll. Das bloße Probieren/Beobachten (vgl. Kap. 7.2) in der natürlichen Umwelt entwickelt sich nun zur Koordination von Beobachtung und operativem Planen innerhalb vorgängig geschaffener zunächst kooperativer und schließlich gesellschaftlicher Bedeutungsstrukturen.

Auch in Bezug auf den Brauchbarkeits-Aspekt der Mittelbedeutungen ist das Probieren nur noch ein Sonderfall der Aneignung vergegenständlichter Gebrauchszwecke. Die Regel ist nunmehr die planvoll-lernende Erschließung der indendierten Brauchbarkeiten der Produkte. Als Sonderfälle des Probierens werden in der GdP vier Punkte genannt (273f):

  1. Wissenschaft als »›Probieren‹ … an der ›Front‹ der gesellschaftlichen Erfahrungsgewinnung«
  2. »›Probieren‹ im Zuge der Individualentwicklung« von Kindern
  3. »›Probieren‹ innerhalb von ›Spielräumen‹«, in denen es keine festen Vorgaben gibt
  4. »›Probieren‹ aufgrund der partiellen Isolation des Individuums von kooperativen Lebenszusammenhängen«, wodurch es sich »wie in einer ›natürlichen Umwelt‹ zurechtfinden muß«

Holzkamp betont, dass »keine dieser vier Formen des ›Probierens‹ mit dem Probieren höchster Tiere bei autarkem Erkundungslernen gleichzusetzen ist« und folgert:

»Das Konzept des ›Neugier- und Explorationsverhaltens‹ ist also zur Charakterisierung der menschlichen Regulation von Beobachtungs-Operations-Koordinationen, weil noch unterhalb des ›menschlichen‹ Niveaus zu orten, total ungeeignet« (274)

Wenn die operative Planung individueller Handlungen im übergeordneten objektiven Handlungszusammenhang ihre Funktion bekommt, heißt dies nicht, dass umgekehrt der übergeordnete Handlungszusammenhang sich quasi als Summe aus den individuellen Operativ-Planungen ergibt. Das bedeutet auch, dass individuelle Handlungen nicht als Resultat individuell-antizipatorisch regulierter Operationen begriffen werden können. Dies ergibt sich schon daraus, dass die kooperativen Ziele nicht als solche, also nicht unmittelbar in die antizipatorische Regulierung der Operationen eingehen. Holzkamp veranschaulicht dies am Jäger-Treiber-Beispiel (das entwicklungslogisch sogar noch zur »naturhaften« Sozialkoordination gehört):

»Schon für den ›Treiber‹ sind zwar die Tatsache, der Zeitpunkt, die Richtung etc. des ›Treibens‹ aus dem übergeordneten sozialkoordinativen Zusammenhang der gemeinsamen Jagd/Umverteilung vorab festgelegt. Die Operation des ›Treibens‹ selbst reguliert sich aber … nur an dem individuell antizipierten Operationsresultat …: Das Handlungsziel der Beute bzw. der Beteiligung an deren Verteilung, ebenso wie die übergeordnete Handlungsstruktur … sind dagegen für die perzeptiv-operative Aktivitätsregulation, die den Erfolg des ›Treibens‹ ausmacht, nicht konstitutiv.« (281)

Operationen sind zwar Realisierungen von individuellen Handlungen, die ihrerseits Realisierungen gesellschaftlicher Zielkonstellationen sind. Die Operationen sind aber weder durch Handlungen unmittelbar strukturiert, noch konstituieren umgekehrt Operationen die individuellen Handlungen. Geht es also darum, den übergeordneten Handlungszusammenhang zu schaffen oder zu verändern, so kann dies nicht auf der operativen Realisierungs- oder individuellen Handlungsebene geschehen:

»Erst wenn durch die Beteiligung des Einzelnen die kooperative Zielkonstellation/-organisation auf ›nichtoperative‹ Weise geschaffen oder geändert wurde, haben die ›Operationen‹ wieder ihre ›Teilziele‹« (282)

Diese Aussagen lassen sich auf die Kooperation von Individuen in übergreifenden Handlungszusammenhängen ausdehnen: Kooperation kann die interindividuelle reziproke Steuerung von Operationen einschließen, muss dies aber nicht:

»›Kooperation‹ als Charakteristikum der sich herausbildenden gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform ist ein in der Produktions- und Reproduktionsweise entstehender objektiver überindividueller Zusammenhang verallgemeinerter Vorsorge für die je individuelle Existenz, an dem der Einzelne teilhat, nicht aber gleichbedeutend mit dem aktuellen Zusammenwirken von Individuen auf ›operativer‹ Ebene.« (283)

Kooperation darf also nicht als »unmittelbares Miteinander-Tun« missdeutet werden, denn mit der Durchsetzung der Gesellschaftlichkeit wird die »mittelbar-gesellschaftliche Beziehung zwischen den individuellen Teilarbeiten« (ebd.) — die gesellschaftliche Arbeitsteilung — bestimmend.

Abschließend läßt sich das individuelle Handeln wie folgt definieren:

»Individuelle Handungen entstehen als Realisierungen oder als Beiträge zur Änderung von kooperativ-gesellschaftlichen Ziel-Mittel-Konstellationen verallgemeinerter Vorsorge für die je individuelle Existenzsicherung« (ebd.)

7.5 Physiologischer und gesellschaftlicher Speicher

Mit der Entfaltung der Operationen als Unterebene der Handlungen (Kap. 7.4) kommt es auch zu einer entprechenden perzeptiv-operativen Strukturierung der Wahrnehmung. Ausgangspunkt der Entwicklung ist das individuelle operative Planen bei der Herstellung oder dem Gebrauch von Arbeitsmitteln. Die notwendigen Operationssequenzen erfordern eine entsprechende an den Mittelbedeutungen orientierte Gliederung des Wahrnehmungsfeldes. Die gegenständliche Wirklichkeit wird lernend wahrgenommen, um die in ihr liegenden »kooperativ-gesellschaftlichen Möglichkeiten zu Herstellungs- und Gebrauchsaktivitäten« (276) anzueignen. So verkörpert etwa die Axt als sinnlich-wahrnehmbares »Ding zum Schlagen« sowohl die realisierten Mittelbedeutungen in Bezug auf ihre Herstellung wie solche in Bezug auf ihre Benutzung (vgl. Hergestelltheits-Aspekt und Brauchbarkeits-Aspekt in  Kap. 6.1).

Die Entwicklung hin zur geplanten Operations-Regulation schließt eine Veränderung der orientierungsleitenden Funktion der Emotionalität (vgl. Kap. 3.5) ein. Die ambivalente Steuerung zwischen gerichteter Energiemobilisierung und Angstbereitschaft zur Verminderung der »Diskrepanz zwischen schon Gelerntem und Neuem« (143) beim autarken Lernen (vgl. Kap. 4.3) kann nunmehr nur in solchen Sonderfällen auftreten, wo das Individuum aufgrund der Isolation vom Kooperationszusammenhang auf das Niveau des bloßen Probierens/Beobachtens zurückgeworfen wird. Allgemein ist hingegen

»das ›Risiko‹ von Fehleinschätzungen des jeweils ›Neuen‹ nicht mehr lediglich von den einzelnen Individuen zu tragen, sondern vorab kooperativ-gesellschaftlich minimiert« (276)

Die neuen Formen der Wahrnehmung und Emotionalität im Prozess der Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen verändern auch die neurophysiologische Funktionsgrundlage. Holzkamp zitiert Volker Schurig (Die Entstehung des Bewußtseins, 1976):

»Demnach bleibt ›der menschliche Kopf … aus dem ursprünglich geschlossenen System von Naturzuständen innerhalb des Verhältnisses Organismus-Umwelt das einzige biologische Organ, über dessen physiologische Funktion sich nun eine ständige Metamorphose von Vergegenständlichungen vollzieht‹ (317f, Hervorh. K.H.)« (277)

Die Vergegenständlichungen in einer »gesellschaftlich-ökonomischen ›Geräteumwelt‹« (ebd.) bilden einen gesellschaftlichen Speicher, der sich zusammen mit dem Gehirn, dem physiologischen Speicher, zu einer übergreifenden Funktionseinheit entwickelt, worin das Gehirn nur ein unselbstständiges Teilsystem ist:

»Die physiologische Speicherungsfähigkeit gewinnt … ihre spezifische strukturell-funktionale Charakteristik aus ihrer Wechselwirkung mit dem ›gesellschaftlichen Speicher‹ und ist nur in diesem Systemzusammenhang neurophysiologisch funktionsfähig« (277)

Das bedeutet, dass der physiologische Speicher als solcher getrennt von der übergreifenden physiologisch-gesellschaftlichen Speicher-Funktionseinheit nicht verständlich werden kann, weil die jeweiligen Referenzen der Bedeutungen gleichsam ins Leere gehen würden. Der praktische Begriff (vgl. Kap. 6.3) der »Axt-zum-Schlagen« setzt den kooperativen Zusammenhang voraus, für den eine Axt hergestellt wird und in dem sie ihre intendierte Brauchbarkeit erhält. Umgekehrt gilt für die sekundär automatisierte Verwendung einer Axt, dass

»die automatisierte ›Fertigkeit‹ des ›Mit-der-Axt-Schlagen-Könnens‹ nur als Aktualisierung der in einer produzierten Axt vergegenständlichten verallgemeinerten Brauchbarkeit in Aktivitäten umsetzbar [ist], dabei gehört es zu den hergestellten Zwecksetzungen solcher Gebrauchsgegenstände selbst, daß der Umgang mit ihnen möglichst schnell und reibungslos ›automatisierbar‹ sein muß.« (277)

Eine isolierte Betrachtung eines einzelnen Gehirns als physiologischem Speicher ist folglich ohne den gesellschaftlichem Speicher, mit dem es in einem funktionalem Zusammenhang steht, wissenschaftlich wenig fruchtbar. Um dies näher zu erläutern, ist es hilfreich, sich noch einmal den Begriff der Bedeutung zu vergegenwärtigen.

Bedeutungen sind nicht etwas von den Menschen getrenntes, sind nicht etwas, das entweder ganz auf der »Weltseite« liegt — etwa als stoffliche Eigenschaften der Dinge — oder ganz auf der Seite der Individuen — etwa als im individuellen Gehirn »konstruierte«, individuell zugeschriebene Relevanzen. Der Begriff der Bedeutung erfasst die Welt- und die Individuumsseite als Vermittlungszusammenhang zwischen beidem. Mit der Zweck-Mittel-Umkehrung werden die Bedeutungen nicht mehr bloß vorgefunden, sondern als Vergegenständlichung intendierter Zwecke als Gegenstandsbedeutungen hergestellt. Mit der Sprache kommen die Symbolbedeutungen hinzu. Gegenständliche und symbolische Bedeutungen verweisen aufeinander (A wird zum Herstellen von B verwendet, und B ergibt mit C zusammen D, das für E verwendet wird etc.). Sie bilden ein Verweisungsnetzwerk und werden schließlich mit dem Dominanzwechsel zu gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen synthetisiert (vgl. Kap. 9). Dieses Netzwerk ist der gesellschaftliche Speicher, es bildet zusammen mit dem physiologischen Speicher der Individuen eine übergreifende Funktionseinheit. Damit wird klar, dass weder eine einzelne »Bedeutung« noch ein einzelnes »Gehirn« bloß aufgrund der physischen oder physiologischen Beschaffenheit aus sich heraus verständlich ist:

»Wer das menschliche Gedächtnis nicht als Wechselwirkung zwischen individuellem und gesellschaftlichem Speicher …, sondern (wie in der traditionellen Psychologie üblich) lediglich als individuelle Leistung erforschen will (und den gesellschaftlichen Systemanteil des Speichers u.U. sogar noch durch Verwendung ›sinnloser Silben‹ o.ä. aus methodischen Gründen im Experiment real wegabstrahiert), der forscht einmal mehr total am Gegenstand vorbei« (339)

7.6 Denken von Handlungszusammenhängen

Die gesellschaftlichen Zielkonstellationen bilden den objektiven Handlungszusammenhang, in dem die Individuen ihre Existenz sichern. Dieser besitzt drei Aspekte (»Teilzusammenhänge«):

  1. Art und Weise des Stoffwechsels mit der (äußeren) Natur
  2. Arbeitsteilung, Arbeitsorganisation und individueller Beitrag
  3. Allgemeine Vorsorge und individuelle Existenzsicherung

Im Unterschied zum bloß operativen, also individuell-regulatorischem Denken, setzt das handlungsbezogene Denken voraus, dass das Individuum den  übergreifenden Handlungszusammenhang mit seinen drei Aspekten kognitiv erfäßt. Diese Aneignung ist möglich, weil die bereits produzierte Lebenswelt jene kognitiven Strukturen enthält, die einmal gedacht worden sein mussten, um sie herzustellen:

»Solche ›Denkstrukturen‹ oder ›Denkformen‹ stecken schon in den durch vergegenständlichende Arbeit geschaffenen ›Mitteln‹/Lebensbedingungen und durch sie konstituierten sozialen Verhältnisse selbst, sind aber … auch in darauf bezogenen sprachlich-symbolischen Formen repräsentiert« (285)

Abb. 21: Aktivitäts-Ursache-Wirkungs-Relation im Bezug zu Operationen und Handlungen (Klicken zum Vergrößern).

Gegenstandsbedeutungen wie sprachlich repräsentierte symbolische Bedeutungen enthalten also das, was gedacht worden ist und was gedacht werden muss: welche Aktivitäten erfolgen müssen, damit die richtigen Voraussetzungen bzw. Ursachen geschaffen werden, die schließlich intendierte Wirkungen haben, die am Ende die vorsorgende Lebensgewinnung sicher stellen (vgl. Abb. 21). Die dreigliedrige zu denkende Struktur besitzt somit kausalen Charakter, der jedoch nicht schon »etwas in der Natur Vorfindliches«, sondern »erst mit der menschlichen Naturveränderung« (287) in die Welt gekommen ist. Dabei reichen die Operationen bis zu den zu schaffenden Voraussetzungen/Ursachen, deren Wirkungen erst durch den übergreifenden objektiven Handlungszusammenhang ihren Sinn bekommen, weil erst damit klar ist, was dort vergegenständlicht wird. Dies sei anhand der drei Handlungsaspekte verdeutlicht.

1. Stoffwechsel mit der Natur

In den Produkten sind kausale Naturzusammenhänge sachintentional vergegenständlicht. Die Aneignung erfordert das Erkennen der kausalen Struktur, die — obzwar vom Menschen geschaffen — »gleichzeitg … objektive, vom Menschen unabhängige Beschaffenheiten und Gesetzmäßigkeiten der Naturverhältnisse« (288) widerspiegeln. Das Feldbau-Beispiel verdeutlicht die Aktivitäts-Ursache-Wirkungs-Relation:

»Die Operation des ›Säens‹ im Frühjahr unter Verwendung des dazu unter bestimmten Umständen aufbewahrten ›Saatgutes‹ als ›Mittel‹ schafft hier die ›Ursachen‹, die ihrerseits als ›Wirkung‹ das Wachsen des Getreides und die Möglichkeit seiner Ernte im Herbst hervorbringen« (289)

Erst die übergreifende kooperativ-gesellschaftliche Herstellung der Lebensbedingungen durch Feldbau macht aus dem (aus unendlich vielen) herausgehobenen Naturzusammenhang »Saat-Getreide« einen kausalen, für die vorsorgende Lebensgewinnung nutzbaren Zusammenhang, der nun als solcher auch gedacht werden kann und muss:

»Die sich bildende ›Erkenntnis‹ steht hier also in Wechselwirkung mit der ›verallgemeinerten‹ Schaffung der Ausgangsumstände, die es der ›Natur‹, da hier ein in ihr liegender gesetzmäßiger Zusammenhang betroffen ist, quasi ›erlaubt‹, auf ebenso allgemeine Weise darauf zu antworten« (289)

Die mit der hergestellten Aktivitäts-Ursache-Wirkungs-Relation verbundene Denkform vollzieht drei wesentliche Leistungen:

  • Verallgemeinern: Abbildung der Allgemeinheit (damit Wiederholbarkeit) zwischen Aktivitäten, Ursachen und Wirkungen
  • Abstrahieren: Absehen von Unwesentlichem in den jeweils herzustellenden Kausal-Beziehungen (zur Realabstraktion vgl. Kap. 6.3)
  • Vereindeutigen: Fokussierung der relevanten Bedeutungen als Voraussetzung für Kommunizierbarkeit der praktischen Begriffe und damit Entstehung der Sprache (vgl. auch Kap. 6.3)

2. Arbeitsteilung und individuelle Teilhabe

Neben den sachintentionalen besitzt die kooperative Form der Lebensgewinnung auch sozialintentionale Aspekte (vgl. Kap. 5.1). Die verallgemeinerte Herstellung der Lebensbedingungen, das Verallgemeinerte-Gemachtsein-Zu, enthält zwei personale kognitive Unterformen: den verallgemeinerten Produzenten, der die Bedingungen schafft, und den verallgemeinerten Nutzer, der seine Existenz durch Nutzung der geschaffenen Bedingungen erhält. Die sich herausbildenden personalen praktischen Begriffe sind ebenfalls Resultat des Verallgemeinerns, Abstrahierens und Vereindeutigens im Prozess der vorsorgenden Herstellung der Lebensbedingungen. Eine weitergehende kognitive Abstraktion ist der praktische Begriff des verallgemeinerten Anderen und die Erkenntnis, dass das Individuum selbst für andere der Andere ist. Das bedeutet auch, dass das Individuum sich als konkreten Fall eines verallgemeinerten Produzenten oder Nutzers erkennen kann.

Zur Veranschaulichung des bedeutenden Entwicklungsschritts, der in dieser Form der sozialen Abstraktion steckt, wird das Feldbau-Beispiel erneut herangezogen, zu dem eine »hypothetische Geschichte« (293) berichtet wird: Im Feldbau aktive Frauen hätten zunächst das Saatgut vor den Männern verstecken müssen, da diese (primär als Jäger aktiv) das Verallgemeinerte-Gemachtsein-Zu des Saatguts nicht begriffen hätten, sondern es als Nahrung unmittelbar zu verzehren trachteten. Sie konnten die Funktion des verallgemeinerten Produzenten, die die Frauen inne hatten, und den Mittel-Charakter des Saatguts für die Feldbau-Aktivität der Frauen, nicht verstehen:

»Indem die Frauen aufgrund ihrer höheren Einsicht in die kooperativ-gesellschaftlichen Ziel-Mittel-Konstellationen das Saatgut versteckten, setzten sie das Allgemeininteresse des Gemeinwesens gegen die bloß individuellen Interessen der Männer durch und handelten damit objektiv auch in deren Interesse an vorsorgender Lebenssicherung.« (294)

Später erreichten die Männer auf Grundlage der aus der Jagd entwickelten Viehzucht und den »in diesem Produktionszweig enthaltenen Denkformen … auch in ihrem individuellen Denken und Handeln das gleiche ›formale Niveau‹ … wie vormals nur die Frauen« (ebd.)

3. Allgemeine und individuelle Vorsorge

Das Feldbau-Beispiel verweist darauf, dass die langfristige, allgemeine Vorsorge und die kurzfristige, individuelle Existenz in einen Widerspruch zueinander geraten können. Als Denkanforderung für das Individuum bedeutet das, den Vorrang (»funktionalen Primat«, 294) des verallgemeinerten gegenüber dem bloß individuellen Nutzen und damit auch des verallgemeinerten Produzenten gegenüber dem verallgemeinerten Nutzer einsehen zu können:

»Indem das Individuum auf ›nichts weiter‹ aus ist … [als] auf seine ›menschliche‹ Existenzerhaltung, muß es zugleich die unaufhebbare Abhängigkeit der eigenen vorsorgenden Daseinssicherung von der kooperativ-gesellschaftlich vorsorgenden Daseinssicherung begreifen können (…) Nur wenn das Individuum so das … kognitive ›Niveau‹ erreicht hat, kann es ›wissen‹, was es zu seiner eigenen Existenzsicherung innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs … zu tun hat, damit auch, wodurch im kooperativ-gesellschaftlichen Lebens- und Bedeutungszusammenhang seine Existenz gefährdet sein kann.« (295)

Individuelle Vorsorge ist gleichbedeutend mit der Beteiligung an kooperativ-gesellschaftlicher Vorsorge. Ist das Individuum von der gemeinschaftichen Vorsorge ausgeschlossen oder ist der kooperative Vorsorgezusammenhang insgesamt gefährdet, so kann »die eigene Existenzbedrohung nur durch die Beteiligung an der Änderung der kooperativ-gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnisse überwunden werden« (296).

7.7 Drei Bedingungen der Motivation

Obwohl in den vergangenen Kapiteln immer schon von Gesellschaft, Handlung, Denken etc. die Rede war, ist in Erinnerung zu rufen, dass wir uns in der Darstellung noch vor dem Dominanzwechsel befinden, wir es also mit dem Prozess der Herausbildung der spezifisch menschlichen Formen zu tun haben, nicht schon mit den entfalteten Formen selbst. Der Herausbildungsprozess spiegelt die jeweils bewältigten Anforderungen an das Überleben der frühen Menschen (Hominini) wider. Entsprechend muss die Bedürfnisgrundlage so beschaffen sein, dass die Individuen zu den operativen, handelnden und kognitiven Leistungen fähig sind, ohne eine bewusste Einsicht in den Prozess zu haben. Die Einsicht kann nicht vorgesetzt werden, sondern ist erst Resultat des Prozesses, der zunächst allein emotional-motivational reguliert ist.

Die Emotionalität entstand als Vermittlungsinstanz zwischen Orientierung und Ausführung, die objektiv die Umweltbedingungen entsprechend des organismischen Zustands widerspiegelt (vgl. Kap. 3.4). Die Vermenschlichung der Emotionalität ändert nichts an diesem Vermittlungs-Charakter: Sie ist »ihrem Wesen nach zugleich objektiv und individuell« (298). Auf menschlichem Niveau vermittelt sie zwischen Wahrnehmung und Handlung.

Die Motivation wurde in Kap. 4.3 als emotionale Regulation individueller Aktivitäten vorgestellt. Sie bewertet Aktivitäten in der Gegenwart in Bezug auf antizipierte Resultate in der Zukunft. Sie wirkt so als automatischer Aktivitätsanleiter auf einer Entwicklungsstufe, wo die Diskrepanz von Gegenwärtigem und Zukünftigen noch nicht denkend überbrückt werden kann.

Die soziale Motivation auf der Stufe der Sozialkoordination dehnt die Wertungsantizipation auf kollektive Aktivitäten aus (vgl. Kap. 5.1), und unter kooperativ-gesellschaftlichen Bedingungen ist der Bezugsrahmen der Motivation der objektive Handlungszusammenhang wie er durch die kooperativen Zielkonstellationen gegeben ist, in dem die individuelle Existenzsicherung als Fall der allgemeinen Vorsorge erkannt wird:

»›Motiviert‹ ist eine Aktivität … in dem Grade, wie als Resultat der Aktivität eine Erweiterung der eigenen vorsorgenden Daseinssicherung, damit eine höhere menschliche Qualität der Bedürfnisbefriedigung, antizipiert werden kann.« (299)

Abb. 22: Die drei Bedingungen der Motivation (Klicken zum Vergrößern).

Umgekehrt bedeutet das, dass die menschliche Besonderheit der Motivation nicht auf operativer Ebene individueller Antizipationen geklärt werden kann. Dies wird schon dadurch deutlich, dass auf operativer Ebene gar nicht klar ist, wozu ein Mittel eingesetzt wird. Der Sinnbezug der Operationen ist allein durch die Wirkung (vgl. Abb. 21) auf der übergordneten Handlungsebene gegeben. Die Operation selbst ist hingegen motivational mehrdeutig. So kann eine Axt für die vorsorgende Schaffung der Lebensbedingungen und damit Absicherung der individuellen Bedürfnisbefriedigung eingesetzt werden oder aber zur Unterdrückung und zum Ausschuss von der kooperativen Vorsorge.

Die Motiviertheit einer Aktivität ergibt sich somit allein darüber, wie die individuelle Existenz als Teil der allgemeinen Vorsorge im übergreifenden Handlungszusammenhang gesichert werden kann (was in Kap. 7.6 in drei Teilzusammenhängen ausgeführt wurde). Die individuelle Motivation ist nun von drei Bedingungen abhängig (vgl. Abb. 22):

  1. Der Beitrag zur gesellschaftlichen Vorsorge und die eigene Existenzsicherung hängen tatsächlich zusammen,
  2. der Zusammenhang ist gesellschaftlich denkbar und
  3. der Zusammenhang wird vom Individuum gedacht.

Vor dem Dominanzwechsel bilden die drei Bedingungen noch weitgehend eine Einheit, die bei Vorhandensein auch unmittelbar zur motivierten Aktivität führen. Diese selbstevidente, quasi-automatische Realisierung wird mit dem Dominanzwechsel aufgebrochen und damit »problematisch«.

Wenn der positiven Bewertung der antizipierten zukünftigen Lebensqualität negativ bewertete Anstrengungen und Risiken auf dem Weg dahin entgegenstehen, kommt es zu einem Motivationswiderspruch:

»Nur soweit sich bei der kognitiv-emotionalen Verarbeitung dieser widersprüchlichen Bestimmungsmomente im Ganzen eine positive Wertigkeit der antizipierten Aktivität ergibt, die die Wertigkeit der gegenwärtigen Situation übersteigt, kann die Aktivität tatsächlich ›motiviert‹ vollzogen werden.« (300)

Die Thematik des Motivationswiderspruchs unter historisch besonderen gesellschaftlichen Bedingungen wird in den Kapitel 10 und 12 erneut aufgegriffen.