Vorher lesen: Kritische Psychologie und Emanzipation
Antwort auf Michael Zanders Kritik unserer Auffassungen
Von Denis Neumüller, Flavio Stein, Ranjana Schirin Kochanek und Stefan Meretz
Neben interessanten Denkanstößen und Literaturhinweisen, sehen wir uns in der Antwort von Michael Zander auch mit zahlreichen Missverständnissen, Unterstellungen und assoziativen Zuschreibungen konfrontiert, die wir nun „eigentlich“ Schritt für Schritt aufklären und in ihrem Kontext gerade rücken müssten. Wir beschränken uns hier jedoch auf einige für uns zentrale Klarstellungen, in der Hoffnung, den begonnenen Dialog bei anderer Gelegenheit weiterzuführen und inhaltlich zu vertiefen.
Mit den von uns vertretenen Auffassungen grenzen wir uns keineswegs vom „von Klaus Holzkamp und anderen entwickelten Ansatz“ (Zander) ab, sondern lediglich von bestimmten gesellschaftstheoretischen Bezügen, die Konsequenzen für die kategoriale Basis der Kritischen Psychologie haben. Dem subjektiven Eindruck, für uns sei Kritische Psychologie lediglich Teil einer umfassenderen Theorie des Commonismus, halten wir entgegen, dass es uns keineswegs darum geht Gesellschaftstheorie und Psychologie in eins zu setzen – wir verweisen an dieser Stelle auf die von Holzkamp in der Grundlegung (1983, S. 27) unterschiedenen Bezugsebenen. Wenn man Holzkamps Aussage, Kritische Psychologie gründe sich auf der gesellschaftstheoretischen Ebene „in der ‚Kritik der politischen Ökonomie‘, wie sie von Marx im ‚Kapital‘ entfaltet wurde“ nicht dogmatisch versteht, geht daraus hervor, dass Lesarten und die historische Einordnung der Marx’schen Werke, die ja in der Geschichte des Marxismus immer schon umkämpft waren, nicht irrelevant für die kategoriale und einzeltheoretische Ebene der Psychologie sein können. Gerade weil es hier jedoch um Implikationen für psychologische Theorie und Praxis geht, scheint es uns verfehlt, auf die von Zander geübte Kritik am Buch von Sutterlütti und Meretz umfassend einzugehen (siehe unten).
Stattdessen wollen wir daran erinnern, in welchem Zusammenhang das Buch in unserem Beitrag zitiert wurde: Es ging um die Bedeutung kategorialer Bestimmungen einer freien Gesellschaft („Utopie“) für das Verständnis verallgemeinerter Handlungsfähigkeit, was ausführlicher im ebenfalls zitierten Artikel von Neumüller & Meretz (2019) entfaltet wird. Gerade darauf geht Zander in seiner Antwort jedoch kaum ein, sondern verschiebt die Diskussion auf die von Sutterlütti und Meretz geübte Kritik an „Reform und Revolution“ sowie die Alternative der Schaffung „bedürfnisgerechterer Räume“. Diese abstrakte Gegenüberstellung wird der Widersprüchlichkeit der Problematik – nämlich wie eine neue Weise der Herstellung unserer Lebensbedingungen im Schoße der alten entwickelt werden kann und welche Implikationen dies für je unsere Handlungsfähigkeit hat – nicht gerecht.
Weder sehen wir die Aufgabe der Kritischen Psychologie darin, Menschen eine bestimmte Emanzipationsstrategie vorzuschlagen, noch geht es uns darum, uns von bestimmten Formen von politischem Engagement zu distanzieren – die Relevanz verschiedener Formen der Einflussnahme auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen für eine Aufhebung des Kapitalismus steht hier nicht zur Debatte und wird in unserem Diskussionszusammenhang – wie schon angemerkt – unterschiedlich eingeschätzt. Es geht uns vielmehr um die Frage, worin die emanzipatorische Richtungsbestimmung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit und die Widersprüchlichkeit restriktiver Handlungsfähigkeit besteht – also um die zentralen Kategorien für die Theorie und Praxis der Kritischen Psychologie.
Die Begriffe der Exklusions- und Inklusionslogik sind auf der gesellschaftstheoretischen Bezugsebene anzusiedeln und bewegen sich auf einer hohen Abstraktionsebene, auch wenn sich die damit benannte Dynamik bis in konkrete Situationen und das Handeln von Menschen, also auf die psychologische Ebene, verfolgen lässt (so wie übrigens auch die „objektiven Gedankenformen“ in der Kritik der politischen Ökonomie). Sie sind nicht mit empirischen Exklusionen oder Inklusionen zu verwechseln – wofür Zander durch seine Teilnahme am Podium der Ferienuni Kritische Psychologie 2014 (nachzuhören auf der entsprechenden Dokumentationsseite, https://archive.org/download/ferienuni-2014/podium-was-ist-marxistisch-an-der-kritischen-psychologie.mp3 ) eigentlich sensibilisiert sein sollte. Erst durch ihren Bezug auf die strukturelle Ebene, mit ihren Sachzwängen, Nahelegungen und Interessengegensätzen, also den Zusammenhang von Struktur und Handlung, gewinnen die Begriffe der Exklusion und Inklusion die von uns intendierte Bedeutung zur Explikation und Konkretisierung der Kategorie der Handlungsfähigkeit. Keinesfalls sollen sie Begriffe wie Herrschaft, Ausbeutung und Bedrohung in den Hintergrund rücken oder gar ersetzen – wenn sich diese Tendenz zeigen sollte, wäre sie im jeweiligen Fall zu Recht zu problematisieren. Wir sehen den Nutzen des Begriffspaars darin, diese Phänomene präziser aufeinander und auf die kapitalistische Verwertungslogik zu beziehen. Uns geht es im übrigen nicht darum neue Wörter einzuführen, die natürlich auch immer problematische Konnotationen und Bezüge haben können (was am von Zander aufgeführten Beispiel der Theorie Parsons deutlich wird) – sondern um die Sache: also das angemessene Verständnis restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit. Dass dieses Verständnis innerhalb der Kritischen Psychologie ein prekäres ist und immer wieder zu verwässern droht, ist ja gerade Anlass unserer kritischen Revision. Gerade aufgrund der Betonung des strukturellen Aspekts scheint uns allerdings die von Zander angemahnte Gefahr eines personalisierenden oder moralisierenden Verständnisses der Formulierung „sich auf Kosten von anderen durchsetzen“ in unserem Verwendungskontext abwegig.
Wir glauben nicht, dass unsere Bestimmung restriktiver Handlungsfähigkeit das Konflikthafte relativiert, abmildert, verschleiert oder verfehlt – im Gegenteil. Indem wir die äußere Gegenüberstellung zwischen Herrschenden und Beherrschten, als problematische Implikation in der Figur des „Arrangements mit den Herrschenden“, aus der allgemeinen Bestimmung restriktiver Handlungsfähigkeit heraushalten, betonen wir die Bedeutung dieser Kategorie auch für Konflikte, in denen sich diese Zuordnung nicht so einfach treffen lässt – was dem Kernbereich psychologischer Fragestellungen, also subtile und teilweise unbewusste Formen der Eingebundenheit in Herrschaftsverhältnisse, näher kommt. Die Bedrohung durch äußere herrschende Instanzen ist als Möglichkeit ebenso darin aufgehoben, wie die Selbstfeindschaft durch meine indirekte Beteiligung oder Aufrechterhaltung von Ausbeutungsverhältnissen oder durch Interessengegensätze, die durch mich hindurchgehen (etwa durch meine Rollen als Konsumentin, Lohnabhängige, Bürgerin eines Staates, und Person, deren Anliegen es eigentlich ist, dass die Umwelt erhalten bleibt), in denen ich also einige meiner Bedürfnisse nur auf Kosten von anderen Bedürfnissen befriedigen kann – was deren Verdrängung nahelegt (so viel nur zu den „neurotischen“ Konflikten). Indem wir die Illusion zurückweisen, eine Richtungsbestimmung ließe sich daran festmachen, ob ich ‘auf der richtigen Seite stehe’, also auf der der ‘Beherrschten’ („unten“) im Kampf gegen die ‘Herrschenden’ („oben“), beharren wir auf der inhärenten Widersprüchlichkeit des Lebens im Kapitalismus und auf der Notwendigkeit eines Zugangs vom Subjektstandpunkt – also unter dem Aspekt je meiner Begründungen, im Interesse der eigenen Selbstaufklärung. Somit geht Zanders Behauptung, wir wollten „nur zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘, aber nicht zwischen ‚Oben‘ und ‚Unten‘“ unterscheiden, am Kern unserer Argumentation vorbei.
Wir haben nie behauptet, mit der Praxis der Kollektiven Selbstverständigung ein „Verfahren“ entwickelt zu haben, schon gar nicht maßen wir uns an, allgemeine methodologische Regeln für kritisch-psychologische Forschung aufzustellen. Wir weisen lediglich darauf hin, dass ein Verständnis restriktiver Handlungsfähigkeit, das auf äußere Herrschaftsverhältnisse geeicht ist – also der von Zander nochmals stark gemachten Unterscheidung von „oben“ und „unten“ – unseres Erachtens eine Haltung des „sich gegenseitig auf die Schliche Kommens“ oder aber einen Rückfall in den Außenstandpunkt in kritisch-psychologischer Praxis begünstigt. Die von Zander monierte Ebenenvermischung in unserer Kritik an der Forschungsgruppe Lebensführung verfehlt insofern gerade die von uns thematisierten Zusammenhänge zwischen diesen Ebenen. Den Vorwurf der „Intransparenz“ gegenüber der Praxis der Kollektiven Selbstverständigung, um deren Entwicklung und Klärung wir aktuell noch ringen, möge uns als Motivation dienen, an den von uns durchaus angestrebten Veröffentlichungen zu arbeiten – ohne uns davon unter Druck setzen zu lassen.
Abschließend möchten wir eine Einladung aussprechen. Die Gruppe, aus der die Schreibenden kommen, hat keine feste Agenda, gleichwohl aber viele Fragen. Aus unserer Sicht ist es kein Zufall, dass es eine postmoderne Aufweichung der Kategorien der Kritischen Psychologie gibt, und die Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt und einer kritisch-psychologischen Praxis zu stellen, halten wir für sinnvoll und notwendig. Wir laden alle Menschen ein, die Lust haben, mit uns an diesen Fragen weiter zu denken.