Seite drucken

12. Handlungsfähigkeit im Kapitalismus

Abb. 28: Fünf Niveaus individualwissenschaftlicher Theorienbildung (Klicken zum Vergrößern)

Nun sind wir in der Analyse ›endlich‹ im Kapitalismus angekommen. Der Kapitalismus ist eine historisch besondere Form der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung. Vor dem inhaltlichen Einstieg rekapituliert Holzkamp fünf Niveaus der Kategorienbildung, die zu unterscheiden sind (356):

  1. »historisch bestimmte objektive Lebensbedingungen«: Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse im zeitgenössischen Kapitalismus auf gesellschaftstheoretischer Bezugsebene (vgl. dazu methodisch Kap. 1.2 und inhaltlich Kap. 8.4)
  2. »Bedeutuungs-Handlungszusammenhänge und Denkformen«: Analyse der Bedeutungs-, Handlungs- und Denkstrukturen in der gegebenen Position und Lebenslage auf dem ersten individualtheoretischen Niveau (Kap. 12.1)
  3. »subjektive Handlungsgründe … ›Prämissen‹«: Analyse der Prämissen und Gründe auf dem zweiten individualtheoretischen Niveau (ab Kap. 12.3)
  4. »psychische Dimensionen … individueller Handlungsfähigkeit/Befindlichkeit«: Analyse der psychischen Dimensionen (Erkenntnis, Emotionen, Motivation etc.) auf dem dritten individualtheoretischen Niveau (ab Kap. 12.6)
  5. »unspezifische Grundlagen in ihrer Wechselwirkung mit dem Psychischen«: Biologische Analyse physiologischer Funktionen

Die umgreifende Darstellung in. Abb. 28 der jeweils übergeordneten Niveaus um die darunter folgenden soll veranschaulichen, dass es sich nicht um separate Analysen handelt, sondern jeweils die Ergebnisse der vorgeordneten Analysen vorausgesetzt sind und in die nachgeordneten Untersuchungen eingehen. Dies betrifft auch das unspezifische Niveau der physiologischen Grundlagen (vgl. dazu auch Kap. 7.5), das in der GdP nicht weiter ausgeführt wird.

Auf dem obersten Niveau wurde die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse als »antagonistische Klassenverhältnisse der bürgerlichen Produktionsweise« (357) in Kap. 8.4 in allgemeinen Zügen geleistet (vgl. dazu auch die Kritik in Kap. 8.5). Im folgenden geht es damit um die Ausführungen zu den drei im engeren Sinne individualtheoretischen Niveaus der Kategorienbildung. Im nächsten Kapitel sollen für das zweite individualtheoretische Niveau die Ergebnisse der gesellschaftstheoretischen Skizze für die sich daraus ergebenden Bedeutungs-, Handlungs- und Denkstrukturen in der gegebenen Position und Lebenslage konkretisiert werden.

12.1 Bedeutungsanalyse des Kapitalismus

Wir befinden uns nun auf den ersten Niveau individualwissenschaftlicher Kategorienbildung, bei dem die allgemeinen gesellschaftstheoretischen Bestimmungen des Kapitalismus (vgl. Kap. 8.4) in Bezug auf die Lebenslage und Position (vgl. Kap. 8.3) konkretisiert werden. Die gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen als objektiver Handlungszusammenhang sind den Indiduen in ihrer Position und Lebenslage ausschnitthaft zugekehrt. Diese Ausschnitte bilden die Infrastrukturen, in denen gedacht und gehandelt wird. Dabei sind die Infrastrukturen der Position — als Aspekt der personalen Teilhabe an der vorsorgenden Schaffung der Lebensbedingungen — durch die Anforderungen der Produktion und die unmittelbare Lebenslage durch die Anforderungen der Reproduktion strukturiert.

Zu den Widersprüchen kapitalistischer Vergesellschaftung zählt Holzkamp

»zuvörderst … die durch die Ausgeschlossenheit der Masse der Gesellschaftsmitglieder von der Verfügung über den gesamtgesellschaftlichen Prozeß bedingte objektive Mystifikation [=Verschleierung] des Zusammenhangs zwischen Reproduktions- und Produktionsbereich und die darin liegende Mystifikation der Produziertheit menschlicher Lebensbedingungen durch die unmittelbaren Produzenten« (361)

Diese Widersprüchlichkeit manifestiert sich in der unmittelbaren Lebenslage und der Position in unterschiedlicher Weise. Die Auswirkung kapitalistischer Vergesellschaftung auf Lebenslage und Position führt Holzkamp in einem längeren Exkurs aus. Die folgende Zusammenfassung versucht die Essenz anhand von Zitaten darzustellen. Dabei werden die Hervorhebungen weggelassen.

Lebenslage

Entwicklungslogisch zurückgeschaut gehen die Infrastrukturen der Lebenslage aus dem Bereich der individuellen Existenzsicherung des verallgemeinerten Nutzers hervor. Die Infrastrukturen der Lebenslage konstituieren Handlungsmöglichkeiten, Denkformen und personale Beziehungen — einschließlich aller Widersprüche. Es geht um die unmittelbare Befriedigung der Bedürfnisse, was auch »gesellschaftlich verallgemeinerte Erfahrungen, etwa im künstlerischen Bereich, rückbezogen auf die individuelle Lebenspraxis« (359f) einschließt; um sexuelle, familiale und freundschaftliche Beziehungen interaktiver Art, aber auch um unmittelbar kooperative Formen; generell um das Umgehen mit den Möglichkeiten und Widersprüchen der Alltagsanforderungen. Denkformen des verallgemeinerten Nutzers prägen sich als Normen, Traditionen, Moden, Sprachcodes etc. aus:

»(D)er ›verallgemeinerte Andere‹ verkürzt sich demgemäß auf das ›man‹: Die Verallgemeinerungen, soweit auf die ›Infrastrukturen‹ der Lebenslage bezogen, begründen sich quasi aus sich selbst, aus ihrer Verbreitung, die gleichzeitig ein Moment der Normativität enthält« (360)

In der unmittelbaren Lebenspraxis führt die »›bürgerliche‹ Formen der scheinhaft ungesellschaftlichen ›Privatexistenz‹ des Einzelnen« (ebd.) zur Umdeutung der »objektive[n] Lebenslage zur scheinbar ›natürlichen‹ Umwelt« (ebd.), in der die realen gesellschaftlichen Vermittlungen ausgeblendet sind. Durch die »Identifizierung des Wertes und des Gebrauchswertes der Waren« (362) kommt es zu einer »Fetischisierung des ›Geldes‹ und des ›Habens‹« und »›Naturalisierung‹ des komplementären Gebrauchswert-Tauschwertstandpunktes, also ›Unsichtbarkeit‹ seiner gesellschaftlichen Widersprüchlichkeit« (ebd.) des Verkaufens und Kaufens.

Auch in den alltäglichen Bedeutungen sind »Verweisungen auf den übergreifenden politisch-ideologischen Zusammenhang vom Standpunkt der herrschenden Klasse enthalten …: Indem die Individuen ihr alltägliches Leben … bewältigen, reproduzieren sie mit der eigenen Existenz gleichzeitig die bürgerlichen Klassenverhältnisse … und Herrschaftsstrukturen«, was die »faktische Mitwirkung der ausgebeuteten Klasse an ihrer eigenen Unterdrückung« (364) impliziert. Gleichzeitig sind in den Infrastrukturen der unmittelbaren Lebenslage auch »Handlungs- und Denkmöglichkeiten über die bürgerlichen Formen hinaus« (ebd.) enthalten, etwa »Möglichkeiten des unmittelbar-kooperativen Zusammenschlusses zum Widerstand gegen die Fremdbestimmtheit und Abhängigkeit« und »Möglichkeiten der ideologischen Durchdringung des bloßen ›Man‹ unhinterfragter Normen zur Regulierung der Alltagshandlungen im Einklang mit den herrschenden Interessen in Richtung auf die praktische Erkenntnis des Widerspruchs der allgemeinen, damit ›je meiner‹ Interessen zu den Partialinteressen der Kapitalherrschaft« (ebd.).

Position

Die Infrastrukturen der Position entstanden aus dem Bereich der gesellschaftlich-vorsorgenden Lebensgewinnung des verallgemeinerten Produzenten, einschließlich der praktischen Begriffe des Verallgemeinerten-Gemachtsein-Zu und der Aktivitäts-Ursache-Wirkungs-Kausalitäten. Sie beziehen sich auf Handlungsmöglichkeiten, Denkformen und personalen Beziehungen bei der Teilhabe an Arbeitshandlungen, eingeschlossen die formbedingten Widersprüche.

Für die Position führt das »historisch bestimmte Verhältnis, in welchem der Arbeiter, um zu leben, seine Arbeitskraft an den Kapitalisten als Produktionsmittelbesitzer verkaufen« muss zu »fremdbestimmten Arbeitsbedingungen«, die wiederum als »unveränderlich ewiges Naturverhältnis« erscheinen. Durch die »Verkehrung der Bezahlung der als Ware an den Kapitalisten verkauften Arbeitskraft als Bezahlung der Arbeit selbst« entsteht der »Schein der Möglichkeit ›gerechten Lohnes‹«, wodurch »Mehrwertproduktion und … Ausbeutungsverhältnis« (362) verschleiert werden. Da vom »naturalisierten Kapitalstandpunkt als Verwertungsstandpunkt jeder Einzelne in seiner Leistung/seinem Lohn mit jedem anderen ›verglichen‹ ist, also die Mehrleistung des einen gleichzeitig die Minderleistung, damit Lohnminderung des anderen, damit (real oder potentiell) die wechselseitige Gefährdung des eigenen Arbeitsplatzes bedeutet« (ebd.), stehen die Arbeiter objektiv in Konkurrenz zueinander. Durch die Eliminierung der »gesamtgesellschaftliche[n] Produziertheit der Arbeitsmittel und Arbeitsbedingungen« in den Denkformen erscheint die »stoffliche Naturaneignung durch ›operative‹ Arbeitshandlungen«, die »durch gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen unter der Verfügung des Kapitals« bestimmt ist, »als reduziert auf jeweils bloß individuell antizipatorische Operationen, über die der einzelne Arbeiter bereits dann voll verfügt, wenn er die gegebenen operativen Anforderungen beherrscht« (ebd.).

Im Produktionsbereich treten die Machtverhältnisse offen zutage, da »der Einzelne, sobald er in die Produktionssphäre eintritt, automatisch dem Kommando des Kapitals unterstellt und in seinen Lebensäußerungen durch dessen Verwertungsstandpunkt beherrscht und diszipliniert ist: Die ›Arbeit‹ ist so hier für die Individuen, obwohl Teil ihrer Lebenspraxis und Vorbedingung für die Erhaltung ihrer Existenz, gleichzeitig ein ›Fremdkörper‹, da sie zu fremdgesetzten Bedingungen arbeiten müssen und sich dabei nicht ›selbst gehören‹« (365). Die »Fremdbestimmtheit der Arbeit, der permanente Druck ›von oben‹ …, die Konkurrenz zwischen den Arbeitenden, die Arbeitsplatzbedrohung durch den Kollegen …, die Arbeitslosigkeit als immer präsente Alternative« werde »als zwar ›hart‹, aber ›unvermeidlich‹, als ›Sachzwang‹, als notwendiger ›Preis der Freiheit‹ o.ä. vorgespiegelt« (ebd.). Die »manifeste Disziplinierung, Unterdrückung, Eliminierung bei Überschreitung der … gesetzten Beschränkungen der Handlungs- und Denkmöglichkeiten… unterliegt so dem Schein der Notwendigkeit im gesellschaftlichen Gesamtinteresse« (ebd.).

Auf der anderen Seite gibt es die »Möglichkeiten ›politischer‹ Zusammenschlüsse zur Zurückdrängung oder Aufhebung der Kapitalherrschaft in kollektiver Subjektivität: Von Gruppierungen informellen Widerstands, … über mannigfache Interessenvertretungen der Arbeitenden und gewerkschaftlichen Organisationsformen bis hin zur manifesten politischen Organisation des Klassenkampfs in der Produktion« (366). Auch hier sind jedoch »Ansätze von Handlungs-/Denkmöglichkeiten über die bürgerlichen Formen hinaus … selbst wieder durch die bürgerlichen Formen partiell mystifiziert und zurückgenommen, zumal die nackte Bedrohung und Unterdrückung durch die staatlich gestützte Kapitalmacht als in solchen Handlungs-/Denkmöglichkeiten liegendes Risiko mindestens latent allgegenwärtig sind« (ebd.).

Holzkamp hebt hervor, dass es sich nur um Hinweise handelt, die wesentlich genauer »in einzeltheoretisch-aktualempirischen Untersuchungen zu klären« (367) seien. In der GdP könnten nur »allgemeine Strukturmerkmale der bürgerlichen Gesellschaft veranschaulicht« (ebd.) werden.

Wie schon in Bezug auf Kap. 8.4 will ich den begonnenen kritischen Exkurs (Kap. 8.5) im nächsten Kapitel mit einer Auseinandersetzung um hier dargestellte Skizze der Strukturmerkmale der kapitalistischen Gesellschaft fortsetzen.

der Einzelne, sobald er in die Produktionssphäre eintritt, automatisch dem Kommando des Kapitals unterstellt und in seinen Lebensäußerungen durch dessen Verwertungsstandpunkt beherrscht und diszipliniert ist: Die ›Arbeit‹ ist so hier für die Individuen, obwohl Teil ihrer Lebenspraxis und Vorbedingung für die Erhaltung ihrer Existenz, gleichzeitig ein ›Fremdkörper‹, da sie zu fremdgesetzten Bedingungen arbeiten müssen und sich dabei nicht ›selbst gehören‹.

12.2 Exkurs: Kritik der traditionellen Klassentheorie (Teil 2)

Der erste Exkurs zur Kritik der traditonellen marxistischen Klassentheorie (Kap. 8.5) soll in diesem zweiten Teil präzisiert und mit der Skizze einer Alternative abgeschlossen werden. Bereits im ersten Teil sollte deutlich geworden sein, dass es in der Kritik nicht darum geht, die Existenz sozialer Klassen in Abrede zu stellen, auch nicht die Gegensätzlichkeit ihrer Interessen, sondern kritisiert wird im Kern die These der prinzipiellen Identifizierung der Interessen der Arbeiterklasse mit allgemein-menschlichen Interessen.

Diese Identifizierung, die wie in Kap. 8.5 dargelegt nicht haltbar ist, hat Folgen für die fortschreitende Analyse. Das soll hier stichpunktartig gezeigt werden:

  1. Durch die Interessen-Identifizierung von Arbeiterklasse und Menschheit im Allgemeinen wird ein polarer Dualismus konstruiert. Auf der einen Seite steht die Arbeiterklasse, die potenziell die allgemein-menschlichen Interessen repräsentiert, auf der anderen Seite mit dem Kapital jene Hauptklasse, die ihr Partialinteresse gegen die allgemein-menschlichen Interessen vertritt, um Privilegien zu sichern. Eventuelle weitere Klassen oder Schichten (Mittelschichten o.ä.) tendieren danach mal zur einen und mal zur anderen Seite.
  2. Damit entsteht ein argumentatives Zwangsmoment: Entweder es handelt sich um partielle oder um allgemeine Interessen, beides zugleich ist formallogisch ausgeschlossen. Damit liegt ein scheinbar klares Kriterium zur Einschätzung von Situationen und verbundenen Interessenlagen vor. Die reale Erfahrung zeigt jedoch, dass fast nirgendwo eindeutige Interessenlagen zu finden sind.
  3. Die dual-polare Interessenkonfiguration ist immer auch mit Personen verbunden. Am deutlichsten wird dies an den Bezeichnungen ArbeiterKapitalist und Herrschende — Beherrschte. Gemäß der Dualität sind Personen entweder diese oder jene.
  4. Die Personifikation wird durch Strukturzuordnungen nicht abgeschwächt. Im Einzelnen ist es unerheblich, ob mit ›den Herrschenden‹ tatsächlich Personen oder aber nur Instanzen (Struktureinheiten, Hierarchieebenen etc.) gemeint sind. Entscheidend ist, dass die Interessen scheinbar eindeutig bipolar verteilt sind: Sie sind entweder verknüpft mit den Interessen der Kapitalistenklasse nach Ausbeutung und Unterdrückung der Beherrschten, oder umgedreht verknüpft mit dem Interesse der Beherrschten, die Partialinteressen der Herrschenden zu brechen, um (langfristig) allgemein-menschliche Interessen durchzusetzen.
  5. Die Logik des ›die‹ oder ›wir‹ wird damit nicht aufgehoben. Das ›die‹ können dabei auch Instanzen sein, etwa bürgerliche Parteien oder Interessen-Vereinigungen, etwa der Bundesverband der Industrie. Genauso stehen auf der anderen Seite Organisationen wie etwa die Gewerkschaften oder auch Parteien. Es können aber eben auch konkrete Personen sein. Dann besteht die Gefahr, dass die Personifikation von Verhältnissen in eine Personalisierung von Situationen umkippt. Damit wird ein zentrales Anliegen der Kritischen Psychologie, nicht Personen, sondern Situationen zu problematisieren, theoretisch unterlaufen. Das zeigen auch immer wieder praktische Erfahrungen in kritisch-psychologischen Projekten.
  6. Die polare Konstellation sich gegenüberstehender Interessen, bei der der eine Pol die ›richtige‹, weil allgemein-menschliche Seite repräsentiert, erzeugt scheinbar überschaubare Verhältnisse. Wer erst einmal verstanden hat, auf welcher Seite ›man‹ zu stehen habe, findet auch Orientierung und Halt. Die im ›man‹ liegende »Normativität« (360) verliert jedoch ihren restriktiven Charakter nicht, nur weil sie sich auf der ›richtigen‹ oder auch nur ›besseren Seite‹ wähnt.
  7. In realen Untersuchungen führt die scheinbare Überschaubarkeit und Klarheit der gesellschaftlichen Interessen immer wieder dazu, die Interessen der Herrschenden, die »mindestens latent allgegenwärtig sind« (366), »wie immer vermittelt« (375), mit in die widersprüchliche Situation hineinholen zu müssen, etwa als »Arrangement mit den Herrschenden« (ebd.), da sonst prinzipiell nicht erklärbar wäre, warum sich nicht einfach die allgemeinen Interessen durchsetzen.
  8. Tatsächlich ist die reale Interessenkonstellation nicht so überschaubar, da es sich auch bei den Interessen der Arbeitskraftkäufer wie -verkäufer ausschließlich um Partialinteressen handelt. Allgemeininteressen verkörpern die beteiligten Personen allein deswegen, weil sie Menschen sind, nicht weil sie Kapitalisten oder Arbeiter sind.
  9. Real geht oft auch der soziologisch bestimmte Status als Arbeitskraftverkäufer (Arbeiter) wie Arbeitskraftverwerter (Kapitalist) mitten durch die Personen hindurch. Der viel zitierte ›Arbeitskraftunternehmer‹ ist nicht nur eine Metapher, sondern Begriff für die Tatsache, dass Arbeitende beide gesellschaftlichen Funktionen wahrnehmen müssen, in dem sie ihre eigene Arbeitskraft verwerten. Für Personen in solchen Situationen ist die polare Interessenkonstellationen als analytischer Hintergrund und Ausgangspunkt »total ungeeignet« (um Holzkamp zu paraphrasieren).
  10. Wenn das »Arrangement mit den Herrschenden«, ja oder nein, nicht als Kriterium taugt, dann bleibt in einer Gesellschaft der vielfach durchdrungenen Partialinteressen nichts anderes übrig, als sich über diese Partialinteressen jeweils aktualempirisch Klarheit zu verschaffen. Das ist in der GdP auch angelegt, weswegen mit dem Verzicht auf den Antagonismus als polarem Angelpunkt nicht die ganze gesellschaftstheoretische Grundlage hinfällig wird. So fasst Holzkamp als Grundchakteristikum restriktiver Handlungsfähigkeit »das Gegeneinander unterschiedlicher Partialinteressen …, denen gemäß die je eigenen Lebensinteressen durch die Interessen anderer eingeschränkt sind, und ich die Verfügung über meine Lebensbedingungen nur auf Kosten der anderen erweitern kann« (374). Dafür bedarf es keines »Arrangement(s) mit den Herrschenden«. Damit gibt es allerdings auch keine eindeutigen Grenzlinien der Interessen. Die, die sich wehren oder etwas Alternatives aufbauen, sind in keiner privilegierten Position, sind nicht gefeit, wiederum Strukturen zu stärken, die die eigene Entfaltung behindern.

Wie kann eine Alternative aus der Einheit von »Kritik/Reinterpretation/Weiterentwicklung« (515) — hier bezogen auf die gesellschafttheoretischen Grundlagen — gewonnen werden? Aus Platzgründen kann auch dies nur spiegelstrichartig geschehen. Zudem gibt es aus meiner Sicht hier keine festen Antworten.

  1. Der Interessengegensatz von Kapital und Arbeit ist Erscheinungsform der zugrunde liegenden Prozesse der Produktion der gesellschaftlichen Lebensbedingungen in getrennter, privater Form. Die privat-getrennte Produktion, die Warenproduktion, erzwingt die gesellschaftliche Vermittlung über den Austausch der Produkte als Waren. Dies wiederum konstituiert mit Notwendigkeit die basalen Vermittlungsformen und Kategorien: abstrakte und konkrete Arbeit, Äquivalententausch, Wert und Gebrauchswert, Geld, Kapital etc. Diese basalen Vermittlungsprozesse gewinnen mit dem Dominanzwechsel zum Kapitalismus einen verselbstständigten Charakter: Es geht nun nicht mehr anders, als in diesen Formen die gesellschaftlich-vorsorgende Produktion der Lebensbedingungen abzusichern und damit gleichzeitig eben diese Formen zu reproduzieren (doppelte Funktionalität).
  2. Die Verselbstständigung der sachlichen Vermittlungsbewegungen gegen die sozialen Prozesse hat Marx mit dem Begriff des Fetischismus gefasst. Dieser bedeutet jedoch, anders als lange interpretiert, nicht die Vorspiegelung eines Scheins etwa als bloße zweckgerichtete ideologische Form zur Herrschaftssicherung, hinter dem ein wirkliches Anderes steckt, sondern der Schein ist das Reale, ist Erscheinung des real Wirkmächtigen. Wir bewegen uns in den Fetischformen, weil wir dies müssen, da wir nur so unsere individuelle Existenz absichern können. Ware, Wert, Arbeit etc. erscheinen als ›soziale Naturformen‹, also so, als ob Menschen ›natürlicherweise‹ schon immer so und nicht anders ihre Lebensbedingungen herstellen. Auf diese Weise erscheinen alle vorkapitalistischen Gesellschaften nur als unentwickelte, unreife Vorformen dessen, was sich heute in ausgreifter Form des ›Natürlichen‹ herausgebildet hat. Damit wird klar, dass kategorial eine gesellschaftliche Vermittlung auf Basis der scheinbaren Naturformen, der Fetischformen, nur eine immanente sein kann. Das entwichtigt keineswegs die Anerkenntnis von Ausbeutungsverhältnissen, nur liegt in diesen selbst kein Moment der Aufhebung des Kapitalismus.
  3. Eine allgemein-menschliche Emanzipation kann tatsächlich nur diese sein. Sie kann also nicht über die Interessen einer Klasse vermittelt werden, sondern nur über die Bedürfnisse der Menschen selbst, dessen Kern die Handlungsfähigkeit ist (243). Es geht damit um die Aufhebung der bürgerlichen Formen und die Durchsetzung einer neuen Weise, die gesellschaftichen Lebensbedingungen in verallgemeinert-vorsorgender Weise herzustellen.
  4. Wenn das Grundcharakteristikum der restriktiven Handlungsfähigkeit die Exklusionslogik, das Durchsetzen jeweils auf Kosten der Anderen im Modus von Partialinteressen ist, dann kann als Richtungsbestimmung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit eine Inklusionslogik herausgehoben werden, bei der die Entfaltung des Individuums die Voraussetzung für die Entfaltung aller ist — und umgekehrt. Das bedeutet auch, dass mit der Aufhebung von Partialinteressen auch der Interessenmodus zur Umsetzung von Bedürfnissen selbst verschwindet. Es bedeutet nicht, dass damit alle Konflikte enden, im Gegenteil: Konflikte können dann endlich so ausgetragen werden, dass sich niemand auf Kosten anderer durchsetzt. Differenzen sind damit nicht mehr Quelle von Trennung, Exklusion und Abstoßung, sondern von Kreativität, Energie und Inklusion.

Damit ist nur eine grobe kategoriale Entwicklungsrichtung skizziert, die hier nicht weiter entfaltet werden kann.

Arrangement mit den Herrschenden

12.3 Restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit

Ausgangspunkt für den nächsten Darstellungsschritt des zweiten Niveaus der individualwissenschaftlichen Kategorienbildung (vgl. Kap. 12) ist die doppelte Möglichkeit der Individuen, unter den bestehenden Bedingungen zu handeln oder die Verfügung über die Bedingungen des Handelns zu erweitern (vgl. Kap. 11.3). Bezieht man nun diese generelle Bestimmung auf die konkreten Lebensbedingungen des Individuums, so bezeichnet Holzkamp die Handlungsmöglichkeiten in der Lebenslage und Position als subjektive Möglichkeitsräume. Diese sind gewissermaßen auf der Seite des Subjekts das Äquivalent zu den Infrastrukturen auf der Seite der objektiven Bedingungen.

Wie sind nun die PrämissenGründe-Konstellationen in den subjektiven Möglichkeitsräumen beschaffen? Wann ist es subjektiv funktional, also begründet, freiwillig auf die Verfügungserweiterung und Erhöhung der Lebensqualität zu verzichten? Die Antwort liegt auf der Hand: Dann, wenn

»die angestrebte Erweiterung der Lebensqualität durch ein höheres Niveau relativer Handlungsfähigkeit immer (mehr oder weniger) mit der existentiellen Verunsicherung darüber verbunden sein muss, ob man tatsächlich das höhere Handlungsfähigkeitsniveau erreichen kann oder nicht stattdessen auch noch die Handlungsfähigkeit auf dem gegenwärtigen niedrigeren Stand einbüßen wird.« (371)

Dabei spielt eine Rolle, dass die Bestrebungen zur »Erweiterung der Bedingungsverfügung gegen herrschende Partialinteressen an der Erhaltung der relativen Verfügungslosigkeit der Beherrschten gerichtet« (ebd.) sein kann, was dazu führt, dass sich durch die »Machtausübung der herrschenden Instanzen zur Unterdrückung solcher Handlungen die Bedrohung des gegenwärtigen Handlungsfähigkeitsniveaus und Gefährdung der individuellen Existenz gravierend erhöhen« (372) kann. Solche Bedrohungen präsentieren sich in den alltäglichen Infrastrukturen »vielfältig vermittelt und gebrochen« (ebd.).

Die damit auf den Begriff gebrachte restriktive Handlungsfähigkeit steht im Fokus der kritisch-psychologischen Analysen, da es unter unseren Bedingungen zunächst darum geht, die vielfältigen Formen von Behinderungen und Selbstbehinderungen der Handlungsmöglichkeiten in einem Prozess der sozialen Selbstverständigung sichtbar machen zu können.

Wann ist es subjektiv funktional, also begründet, trotz Bedrohungen die Verfügungserweiterung und Erhöhung der Lebensqualität anzustreben, und wie kann dies gehen? Die Antwort Holzkamps spiegelt den politisch-theoretischen Debattenstand zur Zeit der Entstehung der GdP wider :

»Die Alternative der Verfügungserweiterung kann nur insoweit subjektiv begründet/funktional werden, wie das Individuum zugleich mit der Möglichkeit der Verfügungserweiterung auch die Möglichkeit erfährt, die dabei zu antizipierende Existenzgefährdung abzuwenden, d.h. durch Zusammenschluß in unmittelbarer Kooperation eine überindividuelle Gegenmacht von der Größenordnung zu gewinnen, die die Gefährdung der je individuellen Existenz aufheben kann« (372f)

Hier ist vor allem an die politische Organisierung gedacht, an Gewerkschaften, Parteien und andere Organisationsformen, wie dies den damaligen Vorstellungen gesellschaftlicher Transformation (Machterringung über die politischen Infrastrukturen des Staates) entsprach. Die heutige Bandbreite transformativer Konzepte ist hingegen wesentlich größer und schießt auch direkt-solidarische Formen des Produzierens und Lebens ein, die ebenfalls unter die allgemeine Bestimmung des unmittelbar-kooperativen Zusammenschlusses zur Gewinnung von überindividueller Handlungsmacht genommen werden können.

Eine sehr treffende und in der gegebenen Kürze allgemeine Fassung der Alternative restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit findet sich in der inhaltlichen Beschreibung des Buches im Impressum der GdP:

»›Restriktive Handlungsfähigkeit‹ als individuell-unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und ›verallgemeinerte Handlungsfähigkeit‹ als gemeinsame Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten« (2)

Dies wird in den folgenden Kapiteln auszuführen sein.

12.4 Instrumentalität und Intersubjektivität

Interpersonale Beziehungen im Modus der restriktiven Handlungsfähigkeit unter Anerkennung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse kennen

»als Grundcharakteristikum … nur das Gegeneinander unterschiedlicher Partialinteressen …, denen gemäß die je eigenen Lebensinteressen durch die Interessen anderer eingeschränkt sind, und ich die Verfügung über meine Lebensbedingungen nur auf Kosten der anderen erweitern kann« (374)

Unter dieser Voraussetzung dienen auch kollektive Aktivitäten dazu, die gemeinsamen Partialinteressen besser gegen andere kollektive Partialinteressen durchsetzen zu können. Diese Bewegungsform unterschiedlicher Interessen entspricht im Kern der bürgerlichen Demokratie-Konzeption.

»Es ist mithin im Rahmen ›restriktiver Handlungsfähigkeit‹ notwendig subjektiv funktional und ›begründet‹, die eigene Macht bzw. die Macht der Gruppe mit den gleichen Partialinteressen zum Zweck der Durchsetzung gegen fremde Partialinteressen zu erhöhen.« (374f)

Holzkamp geht davon aus, dass die »wirkliche Macht in letzter Instanz unangefochten den Herrschenden gehört« (375), weswegen in wie immer vermittelter Form die eigene Machtausübung nur als »Teilhabe an der Macht der Herrschenden« (ebd.) realisierbar ist:

»Das Arrangement mit den Herrschenden schließt hier also tendenziell den Versuch der Partizipation an ihrer Macht zur Absicherung/Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit auf Kosten fremder Interessen ein, wobei die Unterdrückung von ›Oben‹ in unterschiedlichster Weise nach ›unten‹, an die, auf deren Kosten die eigenen Partialinteressen durchgesetzt werden sollen, weitergegeben wird.« (ebd.)

Der darin liegende personale Beziehungsmodus ist der der wechselseitigen Instrumentalisierung und Kontrolle. Holzkamp illustriert die emotionale Seite kompensatorischer Instrumentalbeziehungen so: Da die Anderen Instrumente zur Umsetzung der eigenen Interessen sind, werden auch Gefühle als Mittel der Instrumentalisierung, des Drucks und der Erpressung eingesetzt. In interaktiven Beziehungen werden emotionale Einheiten tauschartig kompensatorisch verrechnet, wobei das Sich-unter-Druck-gesetzt-fühlen zu einer Grundbefindlichkeit wird. Das wechselseitige Ausleuchten des Innenlebens des jeweils Anderen verselbstständigt sich als besonders intensives »Einfühlen«. Charakteristische emotionale Qualitäten sind Schuldgefühle, Enttäuschung, Empfindlichkeit, Eingechnapptsein, Verletztheit etc. (408f).

Als doppelte Funktionalität bezeichnet Holzkamp die Übereinstimmung von subjektiver Funktionalität der Instrumentalität und Kontrolle im Rahmen restriktiver Handlungsfähigkeit mit der systemischen Funktionalität der Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Jede Teilhabe an den Verhältnissen reproduziert auch immer diese Verhältnisse.

Die Alternative der Intersubjektivität im Rahmen der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit bedeutet die

»Überschreitung der Grenzen der individuellen Subjektivität durch unmittelbare Kooperation in Richtung auf die Durchsetzung allgemeiner Interessen der gemeinsamen Selbstbestimmung gegen herrschende Partialinteressen« (373)

Kollektive oder gesellschaftliche Subjektivität, also Handlungsfähigkeit in überindividueller Größenordnung und der Perspektive der Durchsetzung allgemein-menschlicher Interessen, kann sich nur auf der Basis intersubjektiver Beziehungen ausbilden, da nur hier die Entfaltung der je eigenen Handlungsmöglichkeiten in unreduzierter Weise zur Geltung kommen können.

12.5 Selbstfeindschaft und Unbewusstes

Beim Versuch, die eigene Handlungsfähigkeit unter Anerkennung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse auf Kosten von anderen zu sichern, kann sich eine Dynamik entwickeln, deren Analyse für Holzkamp den »Kernwiderspruch jeder subjektiven Lebensproblematik innerhalb der bürgerlichen Klassenrealität« (376) zu Tage fördert. Die kategoriale Aufschlüsselung dieses Kernwiderspruchs ist die Voraussetzung »für eine adäquate theoretisch-aktualempirische Erfassung von all dem, was … als ›psychische Schwierigkeiten‹, ›Störungen‹, ›Neurosen‹ etc. verhandelt wird« (377).

Die Pole des Widerspruchs sind auf der einen Seite der Versuch, »durch Arrangement mit den Herrschenden … Handlungsfähigkeit unter Verzicht auf die Verfügung über deren Bedingungen zu erreichen« (ebd.). Auf der anderen Seite steht »das Sich-Ausliefern an unbeeinflussbare Manifestationen gegebener Unterdrückungsverhältnisse, quasi an die ›Willkür‹ der Herrschenden« (ebd.). Durch den Verfügungsverzicht und die eigene Auslieferung gefährdet man das Niveau an Handlungsfähigkeit, das »man durch den Verzicht auf die Bedingungsverfügung und das Arrangement mit den Herrschenden doch gerade absichern will« (ebd.). Mehr noch:

»Indem man hier, … einerseits im Arrangement mit den Herrschenden zur Durchsetzung der eigenen Partialinteressen an deren Macht partizipieren, damit sich selbst an der Unterdrückung aktiv beteiligen muß, stärkt man andererseits gerade jene Mächte und Kräfte, denen man im Verzicht auf die Verfügung über die Möglichkeitsbedingungen des Handelns ausgeliefert ist. Dies heißt, daß (mit den Worten Ute H.-Osterkamps*) ›… jeder, der sich innerhalb der gegebenen Abhängigkeitsverhältnisse einzurichten versucht, nicht nur Opfer, sondern auch Komplize der Machthabenden und damit sich selbst zum Feinde wird‹« (ebd.)

Die Dynamik der damit formulierten Selbstfeindschaft liegt nun darin, dass ich mir auf jeder Ebene mit meinen Handlungen selbst wieder ins Genick schlage, weil ich Verhältnisse befördere und erzeuge, in denen die anderen handeln wie ich, also versuchen, sich auf meine Kosten durchzusetzen, was ich wiederum unter Kontrolle bringen und abwehren muss etc. Was mir im Rahmen restriktiver Handlungsfähigkeit kurzfristig gelingt, verringert langfristig »meine eigene Basis wirklicher langfristiger Handlungsfähigkeit« (ebd.):

»Meine Instrumentalisierung des anderen impliziert notwendig, dass auch der andere mich instrumentalisiert. Indem ich ihn von mir isoliere, isoliert er mich von sich. Damit bin ich, im Versuch, mich durch die Kontrolle anderer abzusichern, immer mehr auf mich selbst zurückgeworfen, also immer ohnmächtiger den von mir unverfügbaren Lebensbedingungen ausgeliefert. (…) Der Versuch der Fremdkontrolle produziert hier also selbst permanent sein Gegenteil, die Verringerung der ›zweiten Möglichkeit‹ der Bedingungsverfügung, damit der Absicherung auch der Handlungsmöglichkeiten im jeweils gegebenen Rahmen« (377f)

Die perpetuierte Selbstfeindschaft führt zu einer Reduzierung und Zersetzung meiner Lebensqualität, zu chronischer Bedrohungsfixierung und wechselseitiger Instrumentalisierung und Kontrolle selbst bis in sexuelle Beziehungen hinein.

Nach dem in Kap. 11.1 dargestellten Apriori der Individualwissenschaft kann sich der Mensch nicht bewusst schaden. Das bedeutet, dass die Selbstfeindschaft dem Individuum nicht bewusst sein kann. Die Konsequenz ist, dass alle tatsächlich dennoch auftretenden Hinweise auf die Mitverantwortung für das eigene Leiden verdrängt, geleugnet, abgespalten und verschleiert werden müssen. Die Realitätsverleugnung muss gegen die im subjektiven Möglichkeitsraum real vorhandenen Alternativen »immer wieder durch ›Einarbeitung‹ der diskrepanten Erfahrungen in den subjektiven Begründungszusammenhang restriktiver Handlungsfähigkeit gegen das eigene ›bessere Wissen‹ durchgesetzt werden« (380). Durch die notwendige Wiederholung und kontinuierliche Absicherung etablieren sich »(relativ) überdauernden Modi der handelnden Welt- und Selbsterfahrung …, also quasi … ›dynamisch unbewußte‹ Anteile der Persönlichkeit« (381).

Damit sieht Holzkamp die Grundlagen für eine »subjektwissenschaftliche Konzeption des ›Unbewußten ein Stück weit entfaltet« (ebd.) und folgert, dass die so hergeleitete

»kategoriale Bestimmung des Unbewußten eine radikale Kritik an all solchen Auffassungen einschließt, in welchen der allgemein-menschliche Charakter des Unbewußten, die genuine Irrationalität menschlichen Handelns und Denkens (meist in psychoanalytischer Tradition) gegen vorgeblich flach-rationalistische Vorstellungen des Marxismus zur Geltung gebracht werden sollen: Das ›Unbewußte‹ ist weder eine anthropologische Letztheit, noch ist es irrational. Es ist vielmehr das Implikat der subjektiven Begründetheit und Funktionalität eines Handlungsrahmens, der sich der ›Rationalität‹ der Herrschenden, letztlich des Kapitals, unterwirft, wobei gerade dadurch, daß das Individuum in diesem Rahmen ›rational‹ handelt, es sich selbst zum Feinde werden muß.« (ebd.)

_______________

*) Quelle: H.-Osterkamp, Ute (1979), ›Narzißmus‹ als neuer Sozialisationstyp? In: Demokratische Erziehung 2, S. 166.

Handlungsfähigkeit unter Verzicht auf die Verfügung über deren Bedingungen zu erreichen

12.6 Deuten und Begreifen

Auf dem dritten Niveau individualwissenschaftlicher Kategorienbildung (vgl. Kap. 12) beginnen wir mit den Denkweisen restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit, dem Deuten und Begreifen. Aus Gründen der »inhaltlichen Veranschaulichung der jeweiligen aufgewiesenen kategorialen Bestimmungen … unter Rekurs auf die allgemeine Lebenserfahrung«(428) betritt Holzkamp hier »die Grauzone zwischen Kategorialanalyse und einzeltheoretischer Hypothesenbildung« (ebd.), weshalb »derartige Darlegungen generell nur als unverbindliche Illustrationen zu werten« seien und »sowohl hinsichtlich ihrer strengen einzeltheoretischen Fassung wie hinsichtlich ihrer aktualempirischen Fundiertheit späterer Nachprüfung bedürftig sind« (ebd.). Mit diesem selbstkritischen Hinweis, den Holzkamp in der GdP allerdings im Kapitel zur Ontogenese quasi nachliefert, fassen wir nun die Bestimmungen des deutenden und begreifenden Denkens hier spiegelstrichartig zusammen.

Deuten

Das deutende Denken im Rahmen restriktiver Handlungsfähigkeit ist durch folgende Aspekte gekennzeichnet:

  • Es ist ein um die doppelte Möglichkeit (vgl. Kap. 11.3) verkürztes Denken: Die immer gegebene Möglichkeit der Verfügung über die Bedingungen wird zugunsten des alleinigen Handelns unter Bedingungen ausgeblendet.
  • Das Denken in Faktizitäten dominiert über das Denken in Potenzialitäten: Möglichkeiten erscheinen nur als »Möglichkeiten unter ›faktischen‹, unverfügbaren Bedingungen« (386)
  • Es ist ein um die gesellschaftlichen Verweisungen verkürztes Denken: Probleme erscheinen so, »als ob sie auch in der unmittelbaren Lebenslage« (387) gelöst werden könnten, da die »reale gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der Existenz des Individuums in seinem Denken eliminiert und negiert ist« (388).
  • Es ist eine person- und interaktionszentrierte Denkweise: Probleme können nur als personenbezogene und interaktiv entstandene und damit auch nur dort zu lösende Probleme gedacht werden.
  • Menschliche Aktivitäten werden nur als Operationen gedacht: Handlungsziele, die real gesellschaftliche Zielkonstellationen realisieren, werden so gedacht, »als ob sie bloß individuelle Ziele seien« (ebd.).
  • Das Denken gewinnt »quasi ›operativen‹ Charakter« (ebd.): Die perzeptive Ebene der Wahrnehmung verselbstständigt sich mit der Folge des »Hervortreten[s] des sinnlich-stofflichen Aspekts der Wirklichkeit« (ebd.)
  • Es ist Unmittelbarkeitsdenken: Durch das »Verhaftetsein im ›Unmittelbaren‹ [verliert] das Individuum quasi immer wieder die gnostische Distanz« (ebd.).
  • Es ist anschauliches Denken: »… das ›Denken‹ ist … unfähig, den sinnlichen Evidenzen und in ihnen liegenden Strukturierungsprinzipien quasi ›Widerstand zu leisten‹« (389)
  • Es ist Denken im Medium des Scheins: Die »objektiven Scheinhaftigkeiten und Mystifizierungen bürgerlicher Lebensverhältnisse … [werden] für bare Münze genommen« (ebd.)
  • Es ist statisches Denken: Ein Entwicklungsdenken und Denken von qualitativ Neuem ist unmöglich, zeitliche Abfolgen erscheinen nur als »sinnliche ›Momentaufnahmen‹ der Realität im Kopf ›verknüpft‹« (ebd.)
  • Es ist Denken »von einem ›Standpunkt außerhalb‹, der personalen ›Unbetroffenheit‹« (ebd.): Durch Eliminierung der gesellschaftlichen Vermitteltheit, »gewinnt das deutende Denken so eine fiktive Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit, gemäß der es so scheint, als ob Probleme, Widersprüche, Antagonismen mir nur als Individuum ›zustoßen‹« (ebd.)
  • Es ist personalisierendes Denken: Handlungen, Befindlichkeiten und Probleme werden »›aus sich selbst‹, d.h. der Wechselwirkung der Individuen mit der sachlichen Realität und untereinander« (390) gedeutet, womit Veränderungen stets nur auf der Ebene der Menschen ihrer Beziehungen denkbar sind.
  • Es identifiziert menschliche Beziehungen mit Instrumentalbeziehungen: Da der Bezug »auf allgemeine Ziele der Verfügung über die Lebensbedingungen … ausgeklammert ist« (ebd.), sind intersubjektive Beziehungen nicht denkbar.
  • Es ist normatives Denken: »Man tut dies…, weil man es tut, quasi als aus dem gesellschaftlichen Handlungszusammenhang isolierte Sicht ›mit den Augen‹ des ›verallgemeinerten Anderen‹« (ebd.)
  • Es verinnerlicht und psychisiert gesellschaftliche Widersprüche: Da gesellschaftliche Widersprüche nicht gedacht werden können, erscheinen sie als im Innern, der Psyche der Menschen liegend und nur dort lösbar.
  • Es ist dynamisch-regressiv: Da das Deuten ständig durch das aus dem Denken Ausgeklammerte in Frage gestellt wird, muss das Deuten immer wieder neu gegen überschreitende Einbrüche der zweiten Alternative abgesichert werden.
  • Es ist die naheliegende und nahegelegte Denkform: Es ist das Denken des »Sich-Einrichten[s] in der Abhängigkeit und die durch Arrangement mit den Herrschenden angestrebte Beteiligung an ihrer Macht in ›restriktiver Handlungsfähigkeit‹« (397)

Begreifen

Das begreifende Denken im Rahmen verallgemeinerter Handlungsfähigkeit ist durch folgende Aspekte gekennzeichnet:

  • Es steht nicht im Gegensatz zum Deuten, sondern schließt es notwendig ein: In der unmittelbaren Lebenspraxis müssen zunächst die deutenden Denkweisen angeeignet werden.
  • Das gilt auch für die »objektiven Scheinhaftigkeiten des kapitalistischen Reproduktionsbereichs« (394): »Ich kann … mein unmittelbares Dasein nicht anders bewältigen als ›in‹ den bürgerlichen Formen« (ebd.)
  • Es geht über das Deuten hinaus: Die Unmittelbarkeit wird überschritten in Richtung auf das Denken der gesellschaftlichen Zusammenhänge »im unmittelbaren Lebensvollzug in ihrer Bestimmtheit durch die antagonistischen bürgerlichen Klassenverhältnisse« (395).
  • Es kann die Entfremdung nicht abschaffen, sich aber ein Begriff von der Entfremdung verschaffen.
  • Es historisch bestimmt: Inhalt und Reichweite richten sich nach der historisch bestimmten »im subjektiven Möglichkeitsraum gegebenen ›zweiten Möglichkeit‹ der Verfügungserweiterung« (395)
  • Es ist universell möglich: Keine gesellschaftliche Unterdrückung oder personale Entwicklungsbehinderung, kann »für das Individuum die Möglichkeit des ›Begreifens‹ ausschließen« (396)
  • Es ist kein Denkstatus: Das Begreifen muss jeder mal erneut errungen werden, grundsätzlich sind »Inkonsistenzen, ›Rückfälle‹, ›Regressionen‹ etc. niemals auszuschließen« (396)
  • Es ist risikoreich und anstrengend: Begreifen bedeutet »Auflehnung gegen bestehende Herrschaftsverhältnisse und das … Denken ›gegen den Strom‹ des ›selbstverständlich‹ Für-wahr-Gehaltenen in einem« (397)
  • Es ist das abgewehrte andere Denken: Da das Deuten brüchig ist, ist es stets durch die zweite Alternative bedroht, denn »›Abwehr‹ schließt paradoxerweise die Kenntnis dessen, was da abgewehrt wird, mindestens als Ahnung der davon ausgehenden Bedrohung ein« (ebd.)
  • Es kann das Unbewusste zurückdrängen: Indem ich mir die Selbstfeindschaft bewusst mache, »›habe‹ ich es auch immer weniger ›nötig‹, reale Beschränkungen, Abhängigkeiten, Unterdrückungsverhältnisse ›personalisierend‹ mir selbst bzw. meinen unmittelbaren Interaktionspartnern anzulasten« (398)
  • Es ist das Erkennen des »Allgemeine[n] im Besonderen der Befindlichkeit meiner individuellen Lebenslage« (ebd.): Ich kann »meine Isolation … überwinden durch die Erfahrung der Verbundenheit mit allen Menschen, die … mit ihren ureigensten Interessen auch die meinen wahren« (ebd.)
  • Es entsteht nicht bloß aus Widersprüchen des Deutens: Der Übergang zum Begreifen »hat den Charakter eines qualitativen Umschlags, eines ›Bruchs‹ mit dem bisherigen Denken [,der] … nur aus Widersprüchlichkeiten der realen Lebenspraxis restriktiver Handlungsfähigkeit« (399) entstehen kann.
  • Es ist ein »Denken vom ›Standpunkt innerhalb‹ des historischen Prozesses« (ebd.): Der Schein des Unbeteiligt-Seins und Standpunkts außerhalb wird erkannt.
  • Es erfordert einen »›Bruch‹ mit der bisherigen Lebenspraxis« (400): »Nur die als realisierbar erfahrene Möglichkeit eines besseren Lebens kann … mir … die Ansätze begreifender Wirklichkeitserkenntnis eröffnen« (399f)
  • Es ist dialektisches Denken: »Die ›Logik‹ des begreifenden ›Denkens innerhalb‹ ist … ›Standpunktlogik‹ und ›Entwicklungslogik‹ zugleich.« (400)
  • Es ist Denken »in ›Kräfteverhältnissen‹« (ebd.): Die »Durchsetzung der allgemeinen Interessen gegen die herrschenden Interessen [erfordert] die Überschreitung bloß ›individueller‹ Ohnmacht durch (informellen oder organisierten) Zusammenschluss mit anderen« (ebd.)
  • Es ist »›Denken‹ von Widersprüchen«, ist »›mehrseitiges‹ Denken« (401): Die »in der Unmittelbarkeit vollzogenen Isolationen der einzelnen Widerspruchspole, damit Eliminierung der Widersprüche selbst, [wird] durch die Reproduktion der über das ›Naheliegende‹ hinausgehenden Zusammenhänge/Widersprüche einen Schritt weit überwunden« (ebd.)
  • Es ist die Oberfläche durchdringendes Denken: Erst im Begreifen ist es möglich, »sich … weniger ›etwas vormachen zu lassen‹ bzw. ›etwas vorzumachen‹, somit die allgemeinen/eigenen Interessen praktisch besser wahren zu können« (ebd.)
  • Es ermöglicht perspektivisch die »Aufhebung der wissenschaftlichen Subjekt-Objektdistanz in einer umfassenderen ›Verwissenschaftlichung‹ des gemeinsamen gesellschaftlichen Lebens« (402)

Deuten wie Begreifen sind kategorial fundierte Richtungsbestimmungen, keine Eigenschaften des Denkens (etwa nach dem Muster einer Checkliste, was sich bei der hier gewählten Form der Spiegelstrich-Liste irriger Weise nahelegen könnte). Wie alle Kategorien sind ist auch das Begriffspaar Deuten/Begreifen Mittel in der Hand der Betroffenen, um ihre eigene Lebenslage durchdringen zu können.

auf allgemeine Ziele der Verfügung über die Lebensbedingungen somit ausgeklammert ist

12.7 Restriktive und verallgemeinerbare Emotionalität

Nach dem kognitiven Aspekt restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit im letzten Kapitel — dem Denken unterschieden in Deuten und Begreifen — geht es nun um den emotionalen Aspekt, der hier nur aus Darstellungsgründen getrennt behandelt wird. Für die Emotionalität verwendet Holzkamp keine eigenen Unterscheidungsbegriffe, sondern spricht von restriktiver bzw. verallgemeinerbarer Emotionalität.

Restriktive Emotionalität

Die restriktive Emotionalität gewinnt im Zusammenhang mit dem deutenden Denken ihre besondere Qualität und Dynamik. Um das deutende Denken konsistent zu halten, müssen alle überschreitenden Hinweise verdrängt werden (vgl. dazu Kap. 12.6). Gleichzeitig spiegelt die emotionale Befindlichkeit die subjektive Wertung der individuellen Lebenslage tatsächlich wider (vgl. dazu Kap. 10.2). Es kommt so zu einem »essentiellen Widerspruch zwischen kognitiver und emotionaler Weltbegegnung und Realitätsbeziehung« (403). Daraus ergeben sich für die restriktive Emotionalität folgende mögliche Erscheinungsformen:

  • »[D]auerndes emotionales Unbehagen und Ungenügen« (ebd.), da die Emotionen mehr Hinweise über den subjektiven Möglichkeitsraum geben, als im deutenden Denken aufgehoben sind.
  • »Dissoziation der Emotionen von den realen kognizierten Lebensbedingungen«, da der »reale Zusammenhang zwischen emotionalem Ungenügen und den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen« (404) verdrängt wird.
  • »Verinnerlichung‹ der Emotionalität als von den realen Lebensbedingungen isolierter, bloß ›subjektiver‹ Zustand«, damit »scheinhaft essentielle ›Dunkelheit‹ und Unklarheit«, die oft als »Qualität besonderer ›Tiefe‹ des personalen Erlebens subjektiv mystifiziert wird« (ebd.)
  • »›Entemotionalisierung‹, d.h. Zurückgenommenheit und Unengagiertheit des Handelns« (ebd.), da die Handlungsimpulse nicht erkannt werden.
  • »Dichotomisierungen zwischen ›Gefühl‹ und ›Verstand‹«, da im »scheinhaften Ausschließungsverhältnis … das ›Fühlen‹ nur auf Kosten des ›Denkens‹ möglich ist und umgekehrt« (405)
  • »genuin defensiver Charakter … (der) ›Gefühle‹, da ihre scheinhafte emotionale Sonderqualität ja tatsächlich aus der Leugnung und Verdrängung der Handlungsimpulse, die einen in Konflikt mit den herrschenden Instanzen bringen könnten, beruht« (ebd).
  • »›Angst‹ als permanente Hintergrundsqualität restriktiver Emotionalität« durch die »hintergründige Bedrohung der eigenen Handlungsfähigkeit durch die Anerkennung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse« resultierend in Verdrängung, Verinnerlichung und Psychisierung sowie »den Personalisierungstendenzen der ›deutenden‹ Welt und Selbstbegegnung« (406)
  • »[Q]uasi ›unbewußte‹ Angst«, die »als solche unfaßbar und unüberwindbar« ist, da die »permanente emotionale Infragestellung der subjektiven Funktionalität der restriktiven Handlungsfähigkeit, der gemäß es einem ja eigentlich ›gut‹ gehen müsste, selbst wieder verdrängt und unbewußt gehalten werden muss« (ebd.)
  • Die unbewußte Angst kann Quelle von »psychischen ›Störungen‹, ›neurotischen Symptomen‹ etc.« sein, die »– indem sie sich aus ihrer ›sekundären Funktionalität‹ der Angstreduzierung bei fortdauernder Verleugnung der Angst und ihrer Ursachen, also ohne Infragestellung des ›restriktiven‹ Arrangements mit den Herrschenden, speisen – gerade aus ihrer genuinen Vergeblichkeit ihre Unerreichbarkeit und Permanenz« (ebd.) erhalten.
  • Die »hintergründige Angstdurchsetztheit« und Ausgeliefertheit macht die restriktive Emotionalität »widersprüchlich, gebrochen, abgestanden« und »unstet und schwankend« (406f)
  • Gerade mit der Fixierung »auf das ›Unmittelbare‹ (ist) menschliche Daseinserfüllung und Bedürfnisbefriedigung, auch unmittelbar sinnlich-vitaler Art, nicht erreichbar« (407)
  • »Die direkte Bezogenheit auf die eigene Emotionalität, die Vorstellung, man könnte seine emotionalen Möglichkeiten unter Ausklammerung der Wirklichkeitserkenntnis und Realisierung der daraus sich ergebenden Handlungsnotwendigkeiten entwickeln, ist nichts anderes als ideologisch abgesicherter Selbstbetrug« (ebd.)

Die emotionale Seite kompensatorischer Instrumentalbeziehungen wurde bereits in Kap. 12.4 beschrieben und muss hier nicht weiter ausgeführt werden.

Verallgemeinerbare Emotionalität

Verallgemeinerbare Emotionalität ist wirkliche Emotionalität und damit Erkenntnisquelle. Holzkamp stellt klar, dass »wirkliche emotionale Erfülltheit und Spontaneität nur in Überwindung der restriktiven Handlungsfähigkeit im Deutungsrahmen in Richtung auf ›begreifende‹ Realisierung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit erlangt werden kann« (407). Dabei geht es um:

  • »Durchdringung des Scheins der bloßen ›Innerlichkeit‹ der Emotionalität durch in ›bewußtem‹ Verhalten herauszuhebende wirkliche Lebensverhältnisse und Unterdrückungsbedingungen« (410)
  • »Wiedergewinnung der eigenen Emotionalität als Erkenntnisquelle und Erfassung der in den emotionalen Wertungen liegenden subjektiven Handlungsnotwendigkeiten in Richtung auf die gemeinsame Verfügungserweiterung« (ebd.)
  • »Gerichtetheit auf die Schaffung von Bedingungen ›menschlicher‹ Lebenserfüllung/Bedürfnisbefriedigung, gleichzeitig Gewinnung von Entschiedenheit, Fülle und Angstfreiheit gegenwärtiger Emotionalität« (ebd.)

Wie auch beim Denken lassen sich diese Ausführungen nur als Richtungsbestimmungen verstehen, die ein kategoriales Fundament besitzen, aber selbst keine Eigenschaften o.ä. fixieren. Insbesondere für die Emotionalität im Rahmen verallgemeinerter Handlungsfähigkeit muss »jedes Stück verallgemeinerten, nichtinstrumentellen emotionalen Engagements den nie total zurückzudrängenden Tendenzen zur emotionalen ›Verinnerlichung‹ mit all ihrer angstbestimmten Defensivität, emotionalen Selbst- und Fremdinstrumentalisierung etc. ›abgerungen‹ werden« (ebd.) und zwar immer wieder. Auch hier ist die verallgemeinerbare Emotionalität kein Zustand, den man erreichen könne, sondern permanente Auseinandersetzung mit widrigen und gegenläufigen Nahelegungen im real existierenden Kapitalismus.

12.8 Motivation und innerer Zwang

Abb. 22: Die drei Bedingungen der Motivation (Klicken zum Vergrößern).

Den Abschluss dieses Gesamtkapitels bildet die Darstellung der Motivation im Rahmen restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit. Er fällt auf, dass Holzkamp hierfür keine eigenen Begriffe schafft (wie beim Denken mit Deuten und Begreifen), aber auch nicht von restriktiver und verallgemeinerbarer Motivation analog zur Emotionalität spricht (zumindest nicht in den Überschriften).

Beide Begriffe — Motivation und Zwang — sind im Grunde schon eingeführt: Motivation als emotionale Wertung zukünftiger Situationen (vgl. schon Kap. 4.3 als Aspekt autarken Lernens) und Zwang als genuiner Aspekt der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz (vgl. Kap. 10.3). Im gegebenen Kontext der Analyse unter kapitalistischen Verhältnissen bezogen auf die jeweilige Lebenslage und Position geht es darum darzustellen, wie es im Rahmen der restriktiven Handlungsfähigkeit zur Verinnerlichung des Zwangs kommt.

Motivation

Zunächst seien noch einmal die drei Bedingungen der Motivation in Erinnerung gerufen, wie sie in Abb. 22 dargestellt wurden. Bei gesicherter Handlungsfähigkeit hat das Individuum »keinen ›Grund, die jeweils gegebene oder fehlende ›Motivation‹ zur Zielerreichung reflexiv auf ihre Adäquatheit hin zu thematisieren und zu problematisieren« (411), da hier die drei Motivationsbedingungen gleichsam automatisch gegeben sind. Das Individuum kann den Zusammenhang von gesellschaftlichen Zielkonstellationen und der eigenen vorsorgenden Existenzsicherung einschließlich ihrer gesellschaftlichen Denkbarkeit erfassen, muss es aber nicht. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist hinzuzufügen, dass dies nicht bedeutet, dass damit alle Handlungen mit Schwung und Energie ausgeführt werden, sondern gerade das ist nicht notwendig, weil die eigene Existenz und menschliche Bedürfnisbefriedigung auch dann real gesichert ist, wenn ich aktuell nichts tue. Wann ich was mit welcher Energie tue, hängt auch unter Bedingungen einer grundsätzlich gesicherten Handlungsfähigkeit von meiner phänomenalen Befindlichkeit ab, in die vielfältige Aspekte (etwa biografische u.a.) eingehen. Ich kann mich dieser Befindlichkeit also grundsätzlich hingeben und muss mich nicht selbst zwingen.

Innerer Zwang

Eine solche Notwendigkeit des Selbstzwangs aufgrund von Fremdzwang gibt es hingegen unter Bedingungen der Unabgesichertheit, etwa unter kapitalistischen Bedingungen, die hier das Thema sind:

»Es ist nämlich nunmehr auch die Möglichkeit in Rechnung zu stellen, daß mit gegebenen Handlungsanforderungen zwar den herrschenden Interessen, aber damit nicht auch den allgemeinen/individuellen Interessen gedient ist, sodaß sie nicht motiviert, sondern nur unter ›Zwang‹ verfolgbar sind.« (ebd.)

Im Rahmen restriktiver Handlungsfähigkeit ist es nun funktional, also begründet, Beschränkungen als unveränderbar hinzunehmen und alle Verweise auf die immer gegebene zweite Alternative auszublenden:

»Die Motivationsproblematik muss hier also vom Individuum so wahrnehmbar sein, als ob sie lediglich innerhalb seiner unmittelbaren Lebenspraxis entsteht und auch hier von ihm bloß individuell bzw. interaktiv lösbar ist.« (412)

Da dies real aber nicht der Fall ist, kommt es immer wieder zu Rückschlägen, Misserfolgen und Niederlagen, die jedoch nicht auf ihre reale Verankerung in den objektiven Zwängen der kapitalistischen Gesellschaft zurückgeführt werden, sondern

»vielmehr werden die genannten Rückschläge und Misserfolge ›psychisiert‹ und ›personalisiert‹, der eigenen Unfähigkeit, der Böswilligkeit anderer, dem persönlichen ›Pech‹ bzw. ›Glück‹ der anderen etc. angelastet.« (ebd.)

Um also auch hier den in deutendem Denken und restriktiver Emotionalität gegebenen Handlungsrahmen konsistent zu halten, müssen all jene Aspekte der Realität ausgeklammert werden, die auf »die Selbstfeindschaft des um unmittelbarer Vorteile willen geschlossenen Arrangements mit den Herrschenden« hinweisen:

»Die äußeren Zwänge, die immer wieder die subjektive Funktionalität/Begründetheit des Akzeptierens der Handlungsrestriktionen gefährden, müssen vom Individuum so verinnerlicht werden, daß ihr Ursprung in den Herrschaftsverhältnissen, mit denen man sich arrangieren will, ein für alle mal unsichtbar bleibt, d.h. daß die äußeren Zwänge in ihrer ›Verinnerlichung‹ … für das Subjekt von motiviert verfolgbaren Anforderungen nicht mehr unterscheidbar sein dürften. Der so als Moment des ›Unbewußten sich herausbildende innere Zwang ist mithin eine ›motivationsförmige‹ subjektive Mystifizierung der Tatsache der Unterdrückung durch die herrschenden Verhältnisse, durch deren Akzeptieren man an der eigenen Unterdrückung aktiv beteiligt ist.« (413)

Die notwendigen Aktivitäten zur Ausblendung ›gefährlicher‹ Emotionen und Abwehr kritischer Gedanken wurden in den vorausgegangen zwei Kapiteln ausführlich beschrieben. Die Funktion der erforderlichen präventiven »›unbewußten‹ Regulationen meiner kognitiv-emotionalen Prozesse« illustriert Holzkamp mit einem Bild:

»Ein Fisch im Glas, der durch einen eingebauten Mechanismus nur Schwimmbewegungen macht, durch welche er nicht an die Wände seines Gefängnisses stößt, kann sich innerhalb des Glases in der grenzenlosen Freiheit des Ozeans wähnen.« (ebd.)

Verallgemeinerte Motivation

Die verallgemeinerte Motivation (die nur drei mal im Text auch so genannt wird) als Überschreitung des verinnerlichten Zwangs besteht darin, die gesellschaftlichen Zielkonstellationen so zu verändern, dass eine allgemeine und individuelle Vorsorge in Deckung kommen, »also (in letzter Instanz) den gemeinsamen Kampf gegen gesellschaftliche Verhältnisse, die aufgrund herrschender antagonistischer Interessen der Verfügung aller über ihre eigenen Angelegenheiten entgegenstehen« (414).

Der Motivationswiderspruch zwischen Chancen und Risiken spitzt sich dabei u.U. zu, wenn »die antagonistischen gesellschaftlichen Kräfte (und ihre Abkömmlinge) … der Erweiterung der Selbstbestimmung Widerstand entgegensetzen« (ebd.). Dem kann wiederum durch überindividuellen Zusammenschluss begegnet werden, »womit eine Gegenmacht gegen die herrschende Macht entsteht, durch welche die Ausgeliefertheit des Einzelnen an die antagonistischen Kräfte reduziert ist und sich auch schon im gemeinsamen Kampf darum eine vorsorgende Verfügung über die je individuellen Lebensbedingungen, wenn auch unter permanenter Bedrohung durch die klassenbedingten Herrschaftsverhältnisse, herausbilden kann« (ebd.).

Holzkamp hält in diesem Zusammenhang (dem Aufbau von Gegenmacht) erzwungene Handlungen für »kurzfristig unvermeidbar« (ebd.), der sich aber dadurch vom Zwang der herrschaftlichen Verhältnisse unterscheidet, dass

»die Tatsache des gegenwärtigen Zwanges voll bewußt gehalten werden kann, ja geradezu das zentrale Kennzeichen der gegenwärtigen Situation darstellt, die in motiviertem Handeln zu verbessern ist, also die Ausgangsdifferenz zwischen gegenwärtiger und antizipierter emotionaler Wertung, damit die Intensität der Motivation selbst, erhöhen muß.« (415)

Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich bei den kategorialen Präzisierungen nicht um die Beschreibung unverrückbarer Wesenheiten des Menschen (Typologien, Eigenschaftsmerkmale etc.) handelt, sondern um einen analytischen Sichtöffner, mit dem die je eigene Situation in sozialer Selbstverständigung begreifbar gemacht werden kann. Wie dies geschehen kann, ist Thema der aktualempirischen Forschung, die im Kapitel 14 dargestellt wird.