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8.5 Exkurs: Kritik der traditionellen Klassentheorie (Teil 1)

Im vorherigen Kapitel 8.4 ist die traditionelle marxistische Formationen- und Klassentheorie, auf die sich Holkamp in der GdP bezieht, zusammengefasst. Nun sind seit dieser Zeit rund 40 Jahre ver- und mit dem Realsozialismus ein Weltsystem untergegangen, das sich genau auf jene Theorie bezogen und einen entsprechenden Weg aus dem Kapitalismus versucht hat. Viele haben aus der historischen Niederlage den Schluss gezogen, dass sich die gesamte zugrunde liegende Theorie empirisch als falsch erwiesen hat und folglich nicht mehr berücksichtigt werden kann. Andere halten hingegen weiter an den klassischen Argumentationslinien fest und bemühen sich um eine immanente Aktualisierung.

Die von mir in diesem Exkurs vorgelegte immanente Kritik beschreitet einen dritten Weg. Sie geht davon aus, dass die Ansprüche nach Überwindung von Kapitalismus, Klassenspaltung, Herrschaft und Entfremdung legitim und dass eine Form der Vergesellschaftung jenseits dessen möglich ist. Gleichzeitig erkennt sie an, dass der bisherige praktische Versuch des Realsozialismus keiner war, der ein Schritt in die Richtung der Aufhebung des Kapitalismus ging, sondern analysiert ihn als eine bürgerlich-immanente Entwicklungsvariante, die sich trotz Verfügung über die Gestaltungsmacht der wesentlichen kapitalistischen Bewegungsformen — in abgeschwächter oder verstärkter Weise — bediente: Warenproduktion, Wertgesetz, Geldvermittlung, Kapitalakkumulation, Markt, Lohnverhältnis, Staat etc. mit den entsprechenden Folgen: Entfremdung, Ressourcenerschöpfung, Umweltzerstörung, Unterdrückung, Unfreiheit u.a.m.

Die Tatsache, dass der Realsozialismus als versuchte Umsetzung eines nicht-kapitalistischen Weges untergegangen ist, verweist auf zwei Dinge. Erstens verweist es auf die historischen Grenzen der Gesellschaften, die ihre gesellschaftliche Produktion und Vermittlung auf Grundlage der Warenproduktion und des Wertgesetzes organisierten. Der Realsozialismus ist nicht untergegangen, weil er eine Alternative zur kapitalistischen Warenproduktion darstellte, sondern weil er diese in willkürlicher Weise — nämlich organisiert über Staat und Zentralplanung — umsetzte. Der Realsozialismus ist folglich nur zuerst untergegangen, ein Zerfall, der sich im neoliberalen Kapitalismus wesentlich langsamer vollzieht. Zweitens verweist das Scheitern darauf, dass eine Alternative jene von Realsozialismus und Realkapitalismus geteilten Grundlagen in die Kritik nehmen muss, und nicht jene abgeleiteten Formen, worin sich die Gesellschaften tatsächlich unterschieden. Die geteilten Grundlagen werden mithin als die wesentlichen und aufzuhebenden Grundlagen bestimmt: Warenproduktion, Wert-/Geldvermittlung, Lohnverhältnis, Kapitalakkumulation.

Die Kritik ist insofern immanent, als sie die insgesamt in der GdP begründete Notwendigkeit und Möglichkeit der kollektiven Verfügung aller Menschen über ihre Lebensbedingungen ernst nimmt. Sie ist kritisch als sie versucht, die theoretischen Defizite in der traditionellen marxistischen Argumentation aufzuzeigen und neue Argumente vorlegt. Wie sich später zeigen wird, hat dies durchaus auch Auswirkungen auf die im engeren Sinne kritisch-psychologischen Vermittlungsbegriffe.

Ausgangspunkt ist die Erfahrung, dass es nicht ›einen‹ Marxismus gibt, der sich als der authentische begründen könnte, sondern es gibt viele theoretische Strömungen, die jeweils die Richtigkeit ihrer interpretativen Sicht auf das Werk von Karl Marx vertreten. Marxismus ist also kein Kanon, sondern Marxsches Denken ist Teil des Gedankenraums des je historisch Denkbaren und insofern zeitgebunden. Die Entwicklung des Realkapitalismus ermöglichte auch neue Einsichten, die Teil der Diskussionen um die Möglichkeiten der Aufhebung des Kapitalismus und der Konstitution einer Form kommunistischer Vergesellschaftung sind.

Die aus meiner Sicht relevanten neuen Erkenntnisse in aller Kürze:

  1. Arbeit und Kapital (verstanden als Klassen) vertreten beide Partialinteressen. Diese Partialinteressen sind gegeneinander gerichtet, aber es ist nicht so, dass die Arbeiterklasse ein »Allgemeininteresse an der Überwindung von Verhältnissen klassenbedingter Fremdbestimmtheit überhaupt« (199f) repräsentiert. Diese Annahme ist zentral für den Kapitalismus überschreitende Transformationskonzepte, die der Arbeiterklasse die zentrale Rolle (historische Mission) zuschreiben. Diese Zuschreibung ist jedoch nur ein ›Sollen‹ und in diesem Sinne idealistisch, sie ist aber nicht theoretisch-logisch begründbar. Begründen lässt sich nur der Interessengegensatz, nicht aber die (Selbst-) Aufhebungsperpektive auf Basis der Interessen der Arbeiterklasse.
  2. Der Klassenkampf ist eine dem Kapitalismus immanente Bewegungsform der Austragung des Interessengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit. Dieser hatte vor allem in der fordistischen Hochzeit der warenproduzierenden Gesellschaften eine reale zivilisationsförderliche Wirkung. Diese drückte sich unter anderem durch die Existenz der realsozialistischen Staaten und des westlichen Sozialstaats aus. Deren Potenzen sind erschöpft, und es gibt objektiv keinen Weg mehr zurück zu dieser Produktionsweise.
  3. Gemeinsam geteilte Grundlage der Staat gewordenen fordistischen Entwicklungswege ist die Warenproduktion. Alle Bestimmungen der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx haben uneingeschränkt Geltung. Alle ›sozialistischen‹ Varianten der Warenproduktion haben sich in einen ›normalen‹ Kapitalismus transformiert oder sind auf dem Wege dorthin, entweder unter Änderung der politischen Herrschaftsverhältnisse (osteuropäische Länder) oder unter Beibehaltung dieser (China, Vietnam u.a.). Parallel dazu verwandelt sich der ›westliche Sozialstaat‹ in eine Exekutionsmaschine der deregulierten Verwertungslogik des Kapitals.
  4. Der vorgeblich antagonistische, tatsächlich aber immanente Interessengegensatz von Kapital und Arbeit wurde als Realgegensatz von ›Kapitalisten‹ und ›Arbeitern‹ bzw. ›Ausbeutern‹ und ›Ausgebeuteten‹ personifiziert und zur polaren Entscheidung verkürzt, wer über die gesellschaftlichen Angelegenheiten verfügt (›auf welcher Seite stehst du‹, ›die oder wir‹ etc.). Herrschaft wurde personell oder institutionell verstanden und verortet. Der Logik entsprechend standen den Herrschenden die Beherrschten gegenüber. Die Einsicht, dass Herrschende und Beherrschte nicht eindeutig personell oder institutionell zuzuordnen sind und dass es immer auch die Beherrschten sind, die sowohl beherrscht werden wie selbst Herrschaft ausüben, ist zwar auf der individualtheoretischen Ebene durch das Selbstfeindschaftskonzept thematisiert, hat auf der gesellschaftstheoretischen Ebene keine theoretische Entsprechung gefunden. Diese Divergenz ist eine Quelle der Kontroversen innerhalb der Kritischen Psychologie (dazu im zweiten Teil mehr).
  5. Da die traditionelle Klassentheorie einer Klasse die Rolle des ›historischen Subjekts‹ (die Klasse, die den Kapitalismus aufhebt) zuweist, gibt es einerseits keinen Bedarf  und andererseits auch eine notwendige Ablehnung der Frage, wie denn eine Vergesellschaftung jenseits des Kapitalismus aussehen könne. Jedes ›Auspinseln‹ einer Zukunft sei kontraproduktiv — so das insbesondere von der Kritischen Theorie entwickelte, durchaus nachvollziehbare Argument — da sonst normativ gesetzt werde, was zu geschehen habe. Die Praxis der Aufhebung entwickle sich aus den Widersprüchen und nicht durch Setzung eines Neuen. Dieses als ›Bilderverbot‹ bekannt gewordene Diktum hat lange Zeit den Blick darauf verstellt, dass die Klassentheorie, die einer Seite im Widerspruch die Lösungspotenz zuschreibt, selbst inadäquat und undialektisch ist.
  6. Mit dem Arbeit-Kapital-Antagonismus und der Arbeiterklasse als angenommenem Repräsentanten der Allgemeininteressen war lange die Frage der gesellschaftlichen Exklusionen bzw. Inklusionen institionell oder gar personell zugeordnet: Das Kapital als Verkörperung der Herrschenden repräsentiert gleichsam den Pol des Ausschlusses, während der langfristige Einschluss der Interessen aller durch die Arbeiterklasse verkörpert werde. Die lange Zeit als ›Hauptwiderspruch‹ unterzuordneten ›Nebenwidersprüche‹ wurden erst durch praktische und theoretische Interventionen verschiedener ›subalterner‹ Bewegungen (Feminismus, Antirassismus, Antisexismus, Antiziganismus etc.) zur Geltung gebracht — über Zwischenstufen (›Triple-Oppression‹) bis zur Auflösung des theoretischen Subordinationsverhältnisses (mit unterschiedlichen Konsequenzen).
  7. »Fremdbestimmung« wird nicht »durch die herrschenden Klassen« (200) ausgeübt, auch nicht durch entsprechende Instanzen. Fremdbestimmung ist kein Verhältnis zwischen Personen, Instanzen oder Klassen, sondern es ist ein gesamtgesellschaftliches Verhältnis, dem alle Gesellschaftsmitglieder unterliegen. Sie begründet sich aus dem Fetischverhältnis, welches soziale Verhältnisse als sachliche Verhältnisse erscheinen lässt, weil sich die verselbstständigte Sachlogik (der Zwang zur perpetuierten  Verwertung von Wert) gegen die Bedürfnisse der Menschen kehrt. Diesen übergreifenden ›Sachzwang‹ unterliegen alle, gleich in welcher gesellschaftlichen Position, mit welchen Partialinteressen und in welcher Lebenslage (dass sich Position und Lebenslage von Arbeitern und Kapitalisten in der Regel erheblich unterscheiden, ist evident).
  8. [Update 8.7.11, entspr. Kommentar 1 u. 2] Die gesellschaftliche Vermittlung wird zwar auch über den Interessengegensatz von Arbeit und Kapital strukturiert, aber dies ist lange nicht der einizge und auch nicht der wesentliche Interessengegensatz im Kapitalismus. Das wesentliche Merkmal ist, dass sich gesellschaftliche Vermittlung insgesamt über Interessengegensätze organisiert und zwar wesentlich über die Verwertungslogik des Kapitals als allgemeiner gesellschaftlicher Infrastruktur dieser Vermittlung. Die sich in Widersprüchen bewegende Verwertung des Werts erzeugt permanent Einschlüsse und Ausschlüsse entlang multipler Interessengegensätze, und zwar über alle Positionen hinweg und durch alle Lebenslagen hindurch. Keine Position, keine Lebenslage, kein Ort und kein Interesse ist dabei in dem Sinne privilegiert, dass darüber per se eine den Kapitalismus überschreitende Transformation möglich wäre. Herrschende und Beherrschte, um diese Terminologie aufzugreifen, gibt es damit überall, aber es gibt nicht ›die‹ Herrschenden, denen ›die‹ Beherrschten gegenüberstünden. Damit ergibt auch das »Arrangement mit den Herrschenden« (375, 377, 378, 379, 397, 398, 399, 404, 405, 406, 412, 413 etc.) nicht den intendierten Sinn, dass dabei ein Gemeinmachen mit der ganz anderen (antagonistischen) Seite stattfinden würde, sondern nur den Sinn, dass es die herrschenden Verhältnisse sind, mit denen je ich mich arrangiere, oder besser: Ich arrangiere mich mit den vielfältigen Mechanismen von Herrschaft und setze diese ein, weil ich so — im Rahmen restriktiver Handlungsfähigkeit, wie wir später sehen werden — meine Existenz durch Teilhabe an dieser Art der gesellschaftlichen Produktion der Lebensbedingungen sichern zu können glaube (einschließlich der damit verbundenen Widersprüche, die noch ausgeführt werden).

Diese grobe Skizze muss genügen. Im folgenden werde ich mich weiterhin bemühen, die in der GdP formulierte Position so gut es geht in ihrer eigenen Argumentation wiederzugeben. Erst zu einem späteren Zeitpunkt (in Kap. 12) werde ich an der Stelle, an der Holzkamp in einem weiteren Exkurs die allgemeinen gesellschaftstheoretische Aussagen in Bezug auf Lebenslage und Position konkretisiert, ebenfalls einen zweiten kritischen Exkurs einfügen.

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