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12.2 Exkurs: Kritik der traditionellen Klassentheorie (Teil 2)

Der erste Exkurs zur Kritik der traditonellen marxistischen Klassentheorie (Kap. 8.5) soll in diesem zweiten Teil präzisiert und mit der Skizze einer Alternative abgeschlossen werden. Bereits im ersten Teil sollte deutlich geworden sein, dass es in der Kritik nicht darum geht, die Existenz sozialer Klassen in Abrede zu stellen, auch nicht die Gegensätzlichkeit ihrer Interessen, sondern kritisiert wird im Kern die These der prinzipiellen Identifizierung der Interessen der Arbeiterklasse mit allgemein-menschlichen Interessen.

Diese Identifizierung, die wie in Kap. 8.5 dargelegt nicht haltbar ist, hat Folgen für die fortschreitende Analyse. Das soll hier stichpunktartig gezeigt werden:

  1. Durch die Interessen-Identifizierung von Arbeiterklasse und Menschheit im Allgemeinen wird ein polarer Dualismus konstruiert. Auf der einen Seite steht die Arbeiterklasse, die potenziell die allgemein-menschlichen Interessen repräsentiert, auf der anderen Seite mit dem Kapital jene Hauptklasse, die ihr Partialinteresse gegen die allgemein-menschlichen Interessen vertritt, um Privilegien zu sichern. Eventuelle weitere Klassen oder Schichten (Mittelschichten o.ä.) tendieren danach mal zur einen und mal zur anderen Seite.
  2. Damit entsteht ein argumentatives Zwangsmoment: Entweder es handelt sich um partielle oder um allgemeine Interessen, beides zugleich ist formallogisch ausgeschlossen. Damit liegt ein scheinbar klares Kriterium zur Einschätzung von Situationen und verbundenen Interessenlagen vor. Die reale Erfahrung zeigt jedoch, dass fast nirgendwo eindeutige Interessenlagen zu finden sind.
  3. Die dual-polare Interessenkonfiguration ist immer auch mit Personen verbunden. Am deutlichsten wird dies an den Bezeichnungen ArbeiterKapitalist und Herrschende — Beherrschte. Gemäß der Dualität sind Personen entweder diese oder jene.
  4. Die Personifikation wird durch Strukturzuordnungen nicht abgeschwächt. Im Einzelnen ist es unerheblich, ob mit ›den Herrschenden‹ tatsächlich Personen oder aber nur Instanzen (Struktureinheiten, Hierarchieebenen etc.) gemeint sind. Entscheidend ist, dass die Interessen scheinbar eindeutig bipolar verteilt sind: Sie sind entweder verknüpft mit den Interessen der Kapitalistenklasse nach Ausbeutung und Unterdrückung der Beherrschten, oder umgedreht verknüpft mit dem Interesse der Beherrschten, die Partialinteressen der Herrschenden zu brechen, um (langfristig) allgemein-menschliche Interessen durchzusetzen.
  5. Die Logik des ›die‹ oder ›wir‹ wird damit nicht aufgehoben. Das ›die‹ können dabei auch Instanzen sein, etwa bürgerliche Parteien oder Interessen-Vereinigungen, etwa der Bundesverband der Industrie. Genauso stehen auf der anderen Seite Organisationen wie etwa die Gewerkschaften oder auch Parteien. Es können aber eben auch konkrete Personen sein. Dann besteht die Gefahr, dass die Personifikation von Verhältnissen in eine Personalisierung von Situationen umkippt. Damit wird ein zentrales Anliegen der Kritischen Psychologie, nicht Personen, sondern Situationen zu problematisieren, theoretisch unterlaufen. Das zeigen auch immer wieder praktische Erfahrungen in kritisch-psychologischen Projekten.
  6. Die polare Konstellation sich gegenüberstehender Interessen, bei der der eine Pol die ›richtige‹, weil allgemein-menschliche Seite repräsentiert, erzeugt scheinbar überschaubare Verhältnisse. Wer erst einmal verstanden hat, auf welcher Seite ›man‹ zu stehen habe, findet auch Orientierung und Halt. Die im ›man‹ liegende »Normativität« (360) verliert jedoch ihren restriktiven Charakter nicht, nur weil sie sich auf der ›richtigen‹ oder auch nur ›besseren Seite‹ wähnt.
  7. In realen Untersuchungen führt die scheinbare Überschaubarkeit und Klarheit der gesellschaftlichen Interessen immer wieder dazu, die Interessen der Herrschenden, die »mindestens latent allgegenwärtig sind« (366), »wie immer vermittelt« (375), mit in die widersprüchliche Situation hineinholen zu müssen, etwa als »Arrangement mit den Herrschenden« (ebd.), da sonst prinzipiell nicht erklärbar wäre, warum sich nicht einfach die allgemeinen Interessen durchsetzen.
  8. Tatsächlich ist die reale Interessenkonstellation nicht so überschaubar, da es sich auch bei den Interessen der Arbeitskraftkäufer wie -verkäufer ausschließlich um Partialinteressen handelt. Allgemeininteressen verkörpern die beteiligten Personen allein deswegen, weil sie Menschen sind, nicht weil sie Kapitalisten oder Arbeiter sind.
  9. Real geht oft auch der soziologisch bestimmte Status als Arbeitskraftverkäufer (Arbeiter) wie Arbeitskraftverwerter (Kapitalist) mitten durch die Personen hindurch. Der viel zitierte ›Arbeitskraftunternehmer‹ ist nicht nur eine Metapher, sondern Begriff für die Tatsache, dass Arbeitende beide gesellschaftlichen Funktionen wahrnehmen müssen, in dem sie ihre eigene Arbeitskraft verwerten. Für Personen in solchen Situationen ist die polare Interessenkonstellationen als analytischer Hintergrund und Ausgangspunkt »total ungeeignet« (um Holzkamp zu paraphrasieren).
  10. Wenn das »Arrangement mit den Herrschenden«, ja oder nein, nicht als Kriterium taugt, dann bleibt in einer Gesellschaft der vielfach durchdrungenen Partialinteressen nichts anderes übrig, als sich über diese Partialinteressen jeweils aktualempirisch Klarheit zu verschaffen. Das ist in der GdP auch angelegt, weswegen mit dem Verzicht auf den Antagonismus als polarem Angelpunkt nicht die ganze gesellschaftstheoretische Grundlage hinfällig wird. So fasst Holzkamp als Grundchakteristikum restriktiver Handlungsfähigkeit »das Gegeneinander unterschiedlicher Partialinteressen …, denen gemäß die je eigenen Lebensinteressen durch die Interessen anderer eingeschränkt sind, und ich die Verfügung über meine Lebensbedingungen nur auf Kosten der anderen erweitern kann« (374). Dafür bedarf es keines »Arrangement(s) mit den Herrschenden«. Damit gibt es allerdings auch keine eindeutigen Grenzlinien der Interessen. Die, die sich wehren oder etwas Alternatives aufbauen, sind in keiner privilegierten Position, sind nicht gefeit, wiederum Strukturen zu stärken, die die eigene Entfaltung behindern.

Wie kann eine Alternative aus der Einheit von »Kritik/Reinterpretation/Weiterentwicklung« (515) — hier bezogen auf die gesellschafttheoretischen Grundlagen — gewonnen werden? Aus Platzgründen kann auch dies nur spiegelstrichartig geschehen. Zudem gibt es aus meiner Sicht hier keine festen Antworten.

  1. Der Interessengegensatz von Kapital und Arbeit ist Erscheinungsform der zugrunde liegenden Prozesse der Produktion der gesellschaftlichen Lebensbedingungen in getrennter, privater Form. Die privat-getrennte Produktion, die Warenproduktion, erzwingt die gesellschaftliche Vermittlung über den Austausch der Produkte als Waren. Dies wiederum konstituiert mit Notwendigkeit die basalen Vermittlungsformen und Kategorien: abstrakte und konkrete Arbeit, Äquivalententausch, Wert und Gebrauchswert, Geld, Kapital etc. Diese basalen Vermittlungsprozesse gewinnen mit dem Dominanzwechsel zum Kapitalismus einen verselbstständigten Charakter: Es geht nun nicht mehr anders, als in diesen Formen die gesellschaftlich-vorsorgende Produktion der Lebensbedingungen abzusichern und damit gleichzeitig eben diese Formen zu reproduzieren (doppelte Funktionalität).
  2. Die Verselbstständigung der sachlichen Vermittlungsbewegungen gegen die sozialen Prozesse hat Marx mit dem Begriff des Fetischismus gefasst. Dieser bedeutet jedoch, anders als lange interpretiert, nicht die Vorspiegelung eines Scheins etwa als bloße zweckgerichtete ideologische Form zur Herrschaftssicherung, hinter dem ein wirkliches Anderes steckt, sondern der Schein ist das Reale, ist Erscheinung des real Wirkmächtigen. Wir bewegen uns in den Fetischformen, weil wir dies müssen, da wir nur so unsere individuelle Existenz absichern können. Ware, Wert, Arbeit etc. erscheinen als ›soziale Naturformen‹, also so, als ob Menschen ›natürlicherweise‹ schon immer so und nicht anders ihre Lebensbedingungen herstellen. Auf diese Weise erscheinen alle vorkapitalistischen Gesellschaften nur als unentwickelte, unreife Vorformen dessen, was sich heute in ausgreifter Form des ›Natürlichen‹ herausgebildet hat. Damit wird klar, dass kategorial eine gesellschaftliche Vermittlung auf Basis der scheinbaren Naturformen, der Fetischformen, nur eine immanente sein kann. Das entwichtigt keineswegs die Anerkenntnis von Ausbeutungsverhältnissen, nur liegt in diesen selbst kein Moment der Aufhebung des Kapitalismus.
  3. Eine allgemein-menschliche Emanzipation kann tatsächlich nur diese sein. Sie kann also nicht über die Interessen einer Klasse vermittelt werden, sondern nur über die Bedürfnisse der Menschen selbst, dessen Kern die Handlungsfähigkeit ist (243). Es geht damit um die Aufhebung der bürgerlichen Formen und die Durchsetzung einer neuen Weise, die gesellschaftichen Lebensbedingungen in verallgemeinert-vorsorgender Weise herzustellen.
  4. Wenn das Grundcharakteristikum der restriktiven Handlungsfähigkeit die Exklusionslogik, das Durchsetzen jeweils auf Kosten der Anderen im Modus von Partialinteressen ist, dann kann als Richtungsbestimmung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit eine Inklusionslogik herausgehoben werden, bei der die Entfaltung des Individuums die Voraussetzung für die Entfaltung aller ist — und umgekehrt. Das bedeutet auch, dass mit der Aufhebung von Partialinteressen auch der Interessenmodus zur Umsetzung von Bedürfnissen selbst verschwindet. Es bedeutet nicht, dass damit alle Konflikte enden, im Gegenteil: Konflikte können dann endlich so ausgetragen werden, dass sich niemand auf Kosten anderer durchsetzt. Differenzen sind damit nicht mehr Quelle von Trennung, Exklusion und Abstoßung, sondern von Kreativität, Energie und Inklusion.

Damit ist nur eine grobe kategoriale Entwicklungsrichtung skizziert, die hier nicht weiter entfaltet werden kann.

Arrangement mit den Herrschenden

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