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10. Wahrnehmung, Emotion, Motivation (Menschen)

Mit der Entwicklung der Gesellschaft als ein in sich funktionsfähiges System sind die Individuen von ihrem unmittelbaren Bezug zu den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen entlastet (vgl. Kap. 8.2). Die Entlastung und prinzipielle Möglichkeitsbeziehung zur Realität hat Konsequenzen für die psychischen Funktionen, die in diesem Kapitel in einer erneuten funktionalen Kategorialanalyse aufgeklärt werden sollen. Dazu sind einige Vorüberlegungen erforderlich.

Mit zunehmender Vergesellschaftung von Produktion und Reproduktion, also gesellschaftlicher Arbeitsteilung, wächst auch die Vermittlungsdistanz zwischen der eigenen Aktivität und der Funktion dieser Aktivität als Beitrag zur allgemeinen gesellschaftlichen Vorsorge. Mehr noch:

»Personale Handlungen, die von Operationen zur direkten vergegenständlichenden Naturaneignung bestimmt sind, stellen … keineswegs mehr die einzige oder auch nur häufigste Form der individuellen Teilhabe an gesellschaftlicher Lebensgewinnung dar. Vielmehr bilden sich mit der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz auch durch die arbeitsteilige Organisation bedingte vielfältige Formen von individuellen Beitragen heraus, die nur auf mehr oder weniger vermittelte Weise mit dem gesellschaftlichen Naturaneignungsprozess zusammenhängen« (308)

Kurz: Nicht nur Arbeitshandlungen sind Beiträge zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung, sondern generell alle Tätigkeiten, die Handlungsmöglichkeiten realisieren und sowohl produktive wie sinnlich-vitale Bedürfnisse befriedigen:

»Gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten … dürfen … keinesfalls als begrenzt auf die bloß ›physische‹ Seite der Lebenssicherung o.ä. missdeutet werden, sondern umfassen all[e] … Befriedigungs- und Erfüllungsmöglichkeiten … einschließlich ›geistig‹, ästhetisch, künstlerisch verdichteter und überhöhter produktiv-sinnlicher Erfahrungsmöglichkeiten. Die Realisierung all solcher Lebensmöglichkeiten auf dem jeweiligen historischen Entwicklungsstand ist für den Menschen im allerengsten Sinne existenznotwendig und jede Einschränkung und Unterdrückung dieser Realisierung im allerengsten Sinne unmenschlich.« (309f)

Damit wird auch klar, dass eine Trennung von Bedürfnissen in solche, die nur auf die »Befriedigung unmittelbarer Notdurft« gerichtet sind, und solche, die auf alle »gesellschaftlich möglichen Genüsse und Erfüllungen« (310) abzielen, nur den realen Ausschluss von Genussmöglichkeiten legitimiert, auf keine Weise aber kategorial gerechtfertigt werden kann. Der Slogan ›Alles für alle‹ ist somit nicht utopische Forderung, sondern allein Einforderung des Menschenmöglichen und Existenznotwendigen.

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