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14.4 Kritik, Reinterpretation, Weiterentwicklung

Die kritisch-psychologischen Kategorien sind ein Mittel, um den inhaltlichen Gehalt sowohl von wissenschaftlichen wie alltäglichen Vorbegriffen analysieren und ggf. reformulieren zu können. Es geht also darum, den meist verdeckten Kategorialbezug von (Alltags-) Theorien und Konzepten aufzuklären (vgl. Kap. 14.3). Holzkamp schlägt für diesen Prozess drei Schritte vor.

  1. Kategoriale Kritik: Hier geht es um eine Bestimmung des Stellenwerts und der Geltung der Vorbegriffe. Dabei können »mannigfache Verkürzungen, Vereinseitigungen, Reduzierungen, Mystifikationen des Kategorialbezugs der Vorbegriffe …[sowie] Diskrepanzen und Widersprüche zwischen dem, was in den darin gegründeten einzeltheoretisch-aktualempirischen Forschungen vorgeblich, und dem, was tatsächlich untersucht wird, zutagetreten« (518)
  2. Kategoriale Reinterpretation: In Erweiterung des ersten Schritts geht es um die Aufhebung der Diskrepanz zwischen dem beanspruchten und dem tatsächlichen Erkenntniswert der Vorbegriffe durch ihre Reformulierung — sofern dies möglich ist, also »der psychologische Gegenstand lediglich verkürzt, vereinseitigt, mystifiziert etc. erfaßt, nicht aber total verfehlt wird« (ebd.). Holzkamp hebt hervor: »Eine besonders wichtige Reinterpretations-Figur … ist die Zurückweisung des ›allgemeinmenschlichen‹ Universalitäts-Anspruchs von Konzepten/Fragestellungen/Resultaten durch Herausarbeitung des Umstands, daß in ihnen tatsächlich Verkürzungen und Mystifizierungen menschlicher Befindlichkeit/Handlungsfähigkeit unter bürgerlichen Klassenverhältnissen blind als allgemeinmenschlich reproduziert werden« (519)
  3. Konzeptionelle Weiterentwicklung: Sofern möglich, können in Vorbegriffen formulierte Konzepte auch neu konstruiert werden, um »die jeweiligen wissenschaftlich, lebenspraktisch, berufspraktisch, politisch relevanten Fragestellungen so zu fassen, daß darin das Verhältnis der möglichen Forschungsresultate zu den Bestimmungen personaler Handlungsfähigkeitgegenstandsgerecht reflektiert und so der Stellenwert und die Tragweite der Forschungen präzise wissenschaftlich ausweisbar ist« (ebd.)

Kritik, Reinterpretation und Weiterentwicklung psychologischer Theorien und Methoden stehen in einem engen Zusammenhang. Dabei ist die Gegenstandsadäquatheit das zentrale methodologische Kriterium (vgl. Kap. 14.3). Diese Forderung betrifft auch die Frage der Objektivierung als Nachweis der Geltung und Verallgemeinerbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse. Wenn dies im wesentlichen nicht auf experimentell-statischem Wege erreicht werden kann ohne die Subjektivität verfahrenstechnisch auszuschließen (vgl. Kap. 14.2), wie dann? Anders gefragt: Wie kann Subjektivität objektiviert werden?

Vollständig auf Objektivierung zu verzichten weist Holzkamp als spiegelverkehrte Verkürzung zurück. Auf diese Weise werde zwar nicht versucht, »das ›Subjektive‹ als wissenschaftlich ununtersuchbar zu eliminieren (bzw. zu ›irrealisieren‹), sondern umgekehrt [wird] aus der wissenschaftlichen Ununtersuchbarkeit des Subjekts die Konsequenz gezogen, daß man es eben ohne den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit … analysieren müsse« (535). Die Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität beruhe auf »Gleichsetzung der Subjekthaftigkeit menschlicher Befindlichkeit überhaupt mit deren bürgerlich-ideologischer Form der scheinhaften Innerlichkeit und Icheingeschlossenheit meiner subjektiven Erfahrungen« (538).

Mit der kritisch-psychologischen Kategorie der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz wird hingegen das Verhältnis von objektiven Bedingungen und subjektiven Handlungsmöglichkeiten unter diesen Bedingungen, an deren Herstellung das Individuum beteiligt ist, gefasst. Der subjektive Möglichkeitsraum umfasst sowohl die Handlungsmöglichkeiten wie -beschränkungen, zu denen je ich mich bewusst verhalten kann:

»Der ›Standpunkt des Subjekts‹ schließt also die Berücksichtigung objektiver Bedingungen keineswegs aus, sondern ein: Ausgeschlossen ist damit lediglich die Verkürzung meines Realitätsbezugs auf meine ›Bedingtheit‹ unter Absehung von meiner Verfügungsmöglichkeit.« (539)

Wie der Standpunkt erster Person in der Forschung unreduziert zur Geltung kommen und Objektivität der gewonnenen Aussagen erreicht werden kann, ist das Thema der folgenden Kapitel.

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