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7.3 Kooperativ-gesellschaftliche Zielkonstellationen

Auf der Stufe der Sozialkoordination und Sozialintentionalität (Kap. 5.1), also noch vor dem Funktionswechsel der Zweck-Mittel-Umkehrung (Kap. 5.2), beziehen sich die Antizipationen nicht nur auf individuelle, sondern auf über mehrere Individuen verteilte überindividuelle Aktivitätssequenzen. Anhand des Jäger-Treiber-Beispiels wurde gezeigt, dass die individuelle Aktivitätssequenz etwa des Treibers nicht aus sich heraus, sondern nur als Teil einer übergreifenden koordinierten Aktivität des Jagens kognitiv erfasst und emotional gewertet werden kann:

»Nur daraus, daß er die Teilsequenz der Gesamtaktivität über die individuelle Sequenz, die er beisteuert, hinaus bis zur Teilung der Beute nach Beendigung der Jagd antizipiert, ist begreiflich, daß er seinen Beitrag zur richtigen Zeit in der richtigen Weise ausführt bzw. daß er hier überhaupt zum Aktivwerden motiviert ist.« (267)

Im Individualgedächtnis werden folglich die überindividuellen Aktivitätsstrukturen gespeichert, damit sie im passenden kollektiven Aktivitätskontext abgerufen werden können. Damit wird der eigene Aktivitätsbeitrag zur unselbständigen Perzeptions-Operations-Einheit (vgl. Kap. 7.1) innerhalb einer koordinierten Aktivität, an der das Individuum beteiligt ist.

Nach der Zweck-Mittel-Umkehrung verlieren die überindividuellen Antizipationen ihren Ad-hoc-Charakter in dem Maße wie sich durch den Einsatz von Arbeitsmitteln bei der vorsorgend-verallgemeinerten Schaffung von Lebensbedingungen kooperative Strukturen durchsetzen. In der Sozialkooperation (vgl. dazu Abb. 17) ist

»…in den kooperativen Bedeutungsstrukturen selbst in generalisierter Weise antizipiert, was zu welcher Zeit auf welche Weise von den Mitgliedern der Gesellungseinheit getan werden muß, damit für die Existenzsicherung jedes Einzelnen unter den jeweils konkreten Verhältnissen vorgesorgt ist« (268)

In den Arbeitsmitteln sind jene Mittelbedeutungen (vgl. Kap. 6.1) vergegenständlicht, die über ihre verallgemeinerten Brauchbarkeiten auf die notwendigen Aktivitäten der Lebensgewinnung verweisen. Solche antizipatorischen vergegenständlichten Notwendigkeiten verallgemeinerter Vorsorge werden kooperative Zielkonstellationen und mit der fortschreitenden Entfaltung der Gesellschaftlichkeit gesellschaftliche Zielkonstellationen genannt.

In der GdP wird damit ein besonderer Ziel-Begriff verwendet, der objektive Zielkonstellationen und individuelle Ziele unterscheidet. Objektive Ziele ergeben sich aus den kooperativen bzw. gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen, die den Vermittlungszusammenhang bilden, in dem das Individuum seine Existenz erhält und individuelle Ziele des Handelns bildet. Dabei beziehen sich die individuellen Handlungen stets auf die kooperativen bzw. gesellschaftlichen Zielkonstellationen. Damit wird zugleich deutlich:

Abb. 20: Träger der Antizipationen in der evolutionären Entwicklung (Klicken zum Vergrößern).

»Vermeintlich individuelle Ziele als Antizipationen auf dem Niveau von Perzeptions-Operations-Sequenzen sind … in Wahrheit notwendige Teilziele übergeordneter kooperativer bzw. gesellschaftlicher Handlungsziele des Individuums — gleichviel, ob das Individuum sich dessen bewußt ist oder nicht, ob es dabei die gesellschaftlichen Zielkonstellationen akzeptiert, negiert oder ändern will etc.« (268)

Rekapitulierend wird die zentrale Bedeutung der Antizipationen deutlich (vgl. dazu Abb. 20). In der evolutionären Entwicklung besaßen diese unterschiedliche Träger. Zunächst waren sie implizit mit dem Bedarf als biotisch-objektiver Vorsorgefunktion zunächst nur über die Populationsentwicklung gemittelt im Genom verankert (u.a. Kap. 3.4). Das autarke Lernen (Kap. 4.3) als individuelles antizipatorisches Signallernen machte das Individuum zum Zentrum der Antizipationen. Mit der Entwicklung von Sozialkoordinationen bezogen sich die Antipationen dann auf überindividuelle Aktivitätssequenzen, die schließlich nach der Zweck-Mittel-Umkehrung von kontinuierlichen kooperativen Bedeutungsstrukturen der mit Arbeitsmitteln geschaffenen Lebensbedingungen für die allgemeine Vorsorge abgelöst wurden. Mit der Dominanz der Gesellschaftlichkeit schließlich verallgemeinern sich die kooperativen zu gesellschaftlichen Zielkonstellationen, die in verallgemeinerter Weise die antizipierten vergegenständlichten Handlungsnotwendigkeiten repräsentieren.

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