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9.2 Handlungsmöglichkeit und Handlungsfähigkeit

Mit der gesamtgesellschaftlichen Integration nach dem Dominanzwechsel ist die Gesellschaft ein in sich erhaltungs- und vermittlungsfähiges System. Damit sind nun zwei Vermittlungszusammenhänge zu unterscheiden. Der gesellschaftliche Vermittlungszusammenhang in sich ist bestimmt durch die jeweils historisch spezifische Produktionsweise bzw. Gesellschaftsformation (vgl. Kap. 8.4). Der Vermittlungszusammenhang von Individuum und Gesellschaft ist bestimmt durch die jeweilige Position und Lebenslage unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. Kap. 8.3).

Im Gegensatz zur überschaubaren Sozialkooperation ist der Zusammenhang zwischen der Schaffung der Lebensbedingungen und Erhaltung der eigenen Existenz unter Bedingungen der gesamtgesellschaftlichen Integration nicht mehr unmittelbar gegeben. Die in den gesellschaftlichen Bedeutungstrukturen liegenden objektiven Handlungsnotwendigkeiten besitzen nur durchschnittlichen Charakter, deren Umsetzung für den jeweiligen Einzelnen nicht zwingend sind. Die Bedeutungsstrukturen bestimmen zwar gesellschaftlich, was durchschnittlich getan werden muss, aber individuell nur, was getan werden kann. Bedeutungen sind folglich nicht mehr — wie noch vor dem Dominanzwechsel (vgl. Kap. 3.3) — artspezifische Aktivitätsdeterminanten, sondern nurmehr individuelle Handlungsmöglichkeiten.

Dies begründet auch eine besondere menschliche Freiheitsbeziehung zur Welt:

»Da … die Existenzsicherung nicht mehr unmittelbar von der Bedeutungsumsetzung abhängt, … hat [das Individuum] im Rahmen der globalen Erfordernisse der eigenen Lebenserhaltung hier immer auch die ›Alternative‹, nicht oder anders zu handeln, und ist in diesem Sinne den Bedeutungen als bloßen Handlungsmöglichkeiten gegenüber ›frei‹.« (236)

Auch Beschränkungen der Handlungsmöglichkeiten — welcher Art auch immer (Unterdrückung, Manipulation etc.) — ändern nichts der grundsätzlichen Freiheits- und Möglichkeitsbeziehung zur Realität. Zugespitzt wäre ein Rückfall in den absoluten Determinationszustand, also »eine totale Ausgeliefertheit an die Umstände … gleichbedeutend mit dem Ende der menschlichen Existenz« (ebd.).

Die neue Qualität nach der Überschreitung der unmittelbar überschaubaren Lebenszusammenhänge in der Sozialkooperation wurde als gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz gefasst. Die personale Handlungsfähigkeit bezeichnet nun

»die Verfügung des Individuums über seine eigenen Lebensbedingungen in Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß« (241)

Diese grundsätzliche Möglichkeit der Verfügung über die Bedingungen ist dem Individuum nicht unmittelbar gegeben, sondern »durch die Lebenslage/Position in ihrer Formationsspezifik vielfältig vermittelt und gebrochen« (ebd.). Es deutet sich an, dass die Handlungsfähigkeit widersprüchliche Erscheinungsformen hat, was in Kapitel 12 näher ausgeführt wird.

 

Da hier die Existenzsicherung nicht mehr unmittelbar von der Bedeutungsumsetzung abhängt, ist das Individuum aber durch die jeweils konkreten vorliegenden Bedeutungsbezüge in seinen Handlungen keineswegs festgelegt, es hat im Rahmen der globalen Erfordernisse der eigenen Lebenserhaltung hier immer auch die ›Alternative‹, nicht oder anders zu handeln, und ist in diesem Sinne den Bedeutungen als bloßen Handlungsmöglichkeiten gegenüber ›frei‹.

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