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9.3 Bewusstsein und Subjektivität
Die Möglichkeitsbeziehung der Individuen zur gesellschaftlichen Realität (vgl. Kap. 9.2) ist die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des Bewusstseins. Indem nun nicht mehr — wie noch in der Sozialkooperation — jedes Ereignis für die Individuen unmittelbar bedeutsam ist, sondern die eigene Existenz im gesellschaftlichen Zusammenhang miterhalten wird, ist eine vermitteltes, erkennendes und reflektierendes Verhältnis zur Welt möglich geworden. Ein Sachverhalt hat nicht mehr direkt eine Aktivität zur Folge, sondern das Individuum kann sich zunächst zu diesem Sachverhalt in eine gnostische (erkennende) Distanz begeben, die damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten ausloten, und sich dann entscheiden, so oder auch anders oder gar nicht zu handeln.
Bewusstsein ist folglich die
»…›gnostische‹ Welt- und Selbstbeziehung, in welcher die Menschen sich zu den Bedeutungsbezügen als ihnen gegebenen Handlungsmöglichkeiten bewusst ›verhalten‹ können, damit nicht mehr in den Erfordernissen ihrer unmittelbaren Lebenserhaltung befangen sind, sondern fähig werden, den übergreifenden Zusammenhang zwischen den individuellen Existenz- und Entwicklungsumständen und dem gesamtgesellschaftlichen Prozess verallgemeinert-vorsorgender Schaffung menschlicher Lebensmittel/-bedingungen zu erfassen.« (237)
Bewusstsein ist also mehr als die Fähigkeit zum antizipatorischen operativen Planen oder zur sprachlichen Kommunikation. Erst mit der Überschreitung des unmittelbaren Rückbezugs der zu planenden oder zu kommunizierenden Sachverhalte auf die eigene Existenz ist eine Unterscheidung von mir als Erkennendem und dem Sachverhalt als dem zu Erkennenden möglich, die ein bewusstes Verhalten zu den Sachverhalten und zu mir selbst erlaubt.
Damit ändern sich auch die Beziehungen der Menschen untereinander:
»Bewusstes ›Verhalten-Zu‹ ist als solches ›je mein‹ Verhalten. ›Bewusstsein‹ steht immer in der ›ersten Person‹. (…) [Ich] erfasse damit die ›anderen Menschen‹ generell als ›Ursprung‹ des Erkennens, des ›bewussten‹ Verhaltens und Handelns ›gleich mir‹.« (237f)
Der andere ist nicht bloß soziales Werkzeug wie auf der Stufe der Sozialkoordination (vgl. Kap. 5.1) oder nur Kooperationspartner bei der vorsorgenden Schaffung der Lebensbedingungen wie auf der Stufe der Sozialkooperation (vgl. Kap. 7.4), sondern Subjekt wie ich, d.h.
»… gleichrangiges, aber von mir unterschiedenes ›Intentionalitätszentrum‹ in seinem ›Verhältnis‹ zu gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und darin zu sich selbst …, und dies ›allgemein‹, d.h. unabhängig davon, ob er gerade in einem aktuellen Kooperations- und Kommunikationszusammenhang zu mir steht.« (238)
Die reziprok-reflexive Verschränkung der je individuellen Perspektiven ist Charakteristikum menschlicher Intersubjektivität:
»Dies gilt auch da, wo unter historisch bestimmten Verhältnissen der andere als Subjekt geleugnet, instrumentalisiert, zum Objekt gemacht wird, da hier die Subjekthaftigkeit des anderen negiert ist, was deren Erkenntnis und Anerkenntnis einschließt: So gewinnt die ›Menschlichkeit‹ interpersonaler Beziehungen aus ihrer Spezifik den Charakter der ›Unmenschlichkeit‹ (ein Tier kann man nicht ›unmenschlich‹ behandeln …)« (ebd.)
Für die Individualwissenschaft hat dies methodisch die Konsequenz, dass die Anderen nicht als Erkenntnisgegenstand auf der Objektseite stehen, sondern es sich bei diesen grundsätzlich um »Unsereinen«, also andere Subjekte handelt. Forschende sind also als Subjekte von den eigenen Forschungsverfahren mitbetroffen (mehr dazu in Kap. 14).
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