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6.1 Von gelernten Orientierungs- zu Mittelbedeutungen

Wir schließen an das Kapitel 5.1 an, das mit der Ausbildung von Sach- und Sozialintentionalität, Sozialkoordination und sozialer Motivation den Entwicklungsstand noch vor dem Funktionswechsel darstellte. Die dort beschriebene neue Qualität der sozialen Ad-Hoc-Herstellung von Werkzeugen entwickelt sich nach der Zweck-Mittel-Umkehrung (Kap. 5.2) zur planmäßigen Herstellung von Arbeitsmitteln. Die autark gelernten Orientierungsbedeutungen richten sich nun auf die verallgemeinerte Herstellung der Werkzeuge, also auf ihre Bedeutungen als Arbeitsmittel, kurz: auf die Mittelbedeutungen.

Die Mittelbedeutungen besitzen einen Brauchbarkeits-Aspekt und einen Hergestelltheits-Aspekt. Der Brauchbarkeits-Aspekt verweist auf die vergegenständlichten verallgemeinerten Gebrauchszwecke des Mittels, das zur vorsorgenden Lebenssicherung eingesetzt wird. Hier geht es also um die zweckgemäße Benutzung des Arbeitsmittels. Die Aktivitäten, die sich hingegen den Hergestelltheits-Aspekt beziehen, sind völlig anderer Art. Hier geht es um die Vergegenständlichung der antizipierten Brauchbarkeiten im Kontext der vorsorgenden Lebenssicherung. Das Machen der Werkzeuge bezieht sich also auf die richtige Bearbeitung der Bestandteile (Holz, Stein, Metall etc.), das Benutzen der Werkzeuge auf die angemessene und effektive Handhabung (etwa die richtige Führung der Axt beim Holzeinschlag).

Die naturwüchsige Funktionsteilung in der Sozialkoordination entwickelt sich immer mehr zur Arbeitsteilung innerhalb der Sozialkooperation (vgl. Abb. 17). Damit ändern sich auch die sozialen Orientierungsbedeutungen. Aus den Artgenossen innerhalb des tierischen Sozialverbands, der durch Dominanzhierarchien und Verwandtschaftsverhältnisse strukturiert war, werden nun die durch die Mittelbedeutungen verorteten Partner im kooperativen Lebenszusammenhang.

Auch auf der Stufe der Sozialkoordination wurden bereits die Ergebnisse der überindividuell organisierten Aktivitäten im Kollektiv aufgeteilt (vgl. das Jäger-Treiber-Beispiel), doch war der Zusammenhang von Lebensmittelgewinnung und -nutzung noch eng auf den jeweils konkreten Sozialverband bezogen. Auf der Stufe der Sozialkooperation

»stehen jetzt die vorsorgend hergestellten Lebensbedingungen in sozial verallgemeinerter Weise zur Verfügung. Ich schaffe die Lebensbedingungen also nicht mehr lediglich für bestimmte andere mit, die aktuell an den Lebensgewinnungsaktivitäten beteiligt sind, sondern generalisiert ›für andere‹; ebenso sind die Lebensbedingungen, die mir zur Verfügung stehen, generalisiert ›von anderen‹ mitgeschaffen …« (214)

Dem entsprechend verändert sich auch die Struktur der Bedürfnisse. Die existenzsichernden Primärbedürfnisse werden nicht mehr befriedigt, wenn lediglich aktuelle Mangel-, Not- und Bedrohungssituationen abgewendet werden konnten, sondern nur dann, wenn ein abgesicherter Zustand gegenüber solchen möglichen bedrohlichen Situationen in verallgemeinert-vorsorgender Weise erreicht ist. Der Kontrollbedarf des Individuums richtet sich nun darauf, an der kooperativen Vorsorge beteiligt zu sein.

Manifeste Angst tritt folglich nicht mehr angesichts aktueller Bedrohungen auf, sondern in dem Maße, wie entweder die gesamte Kooperation, die die Existenz und Bedürfnisbefriedung in verallgemeinerter Weise sicher stellt, bedroht ist, oder der Einzelne vom kooperativen Lebenszusammenhang isoliert wird.

Die neuen nun auf die Kooperation bezogenen existenzsichernden Bedürfnisse bilden den emotional regulierten Antriebsrahmen, der die Individuen in die Lage setzt, sich an der Kooperation zu beteiligen. Denn:

»Man darf keineswegs davon ausgehen, daß der Zusammenhang zwischen der Beteiligung an kooperativer Lebensgewinnung und individueller Existenzsicherung/Primärbefriedigung den Organismen/Individuen von Anfang an ›bewußt‹ war, und sie deshalb, quasi aus ›Einsicht‹, sich an kooperativen Aktivitäten beteiligten. ›Bewußtsein‹ ist … ein Resultat der Entwicklung zur gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform …, kann also nicht schon als Voraussetzung für diese Entwicklung hypostasiert werden …« (216f)

Unter der Dominanz der Phylogenese setzen sich nach wie vor solche neuen Entwicklungen durch, die im Effekt biotisch funktional sind, der Art also einen Selektionsvorteil verschaffen. Kooperation, Schaffung und Nutzung von Arbeitsmitteln und auf die Beteiligung an der kooperativen Vorsorge ausgerichtete Bedürfnisse sind alles evolutionäre Entwicklungen, die sich im Überlebenskampf als förderlich erwiesen haben und deshalb zur Grundlage der weiteren Entwicklungschritte wurden.

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