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8.2 Gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit

Aus dem Dominanzwechsel zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung folgt methodisch, dass die sich entwickelnde neue Qualität des Psychischen nicht mehr funktional-historisch aufgeklärt werden kann. Die Phylogenese spielt keine Rolle mehr, alle Menschen besitzen die gleiche biotische Potenz zur individuellen Vergesellschaftung. Die nun vom Menschen geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnisse sind selbst kein psychischer Sachverhalt, sie sind nurmehr die Grundlage für Entwicklung des Psychischen.

Das Individuum bekommt nun einen neuen Stellenwert. Im phylogenetischen Entwicklungsprozess war die Selbsterhaltung der Arterhaltung (Ebene der Population) untergeordnet. Untergang oder Überleben eines einzelnen Organismus hatten keinen eigenständigen funktionalen Stellenwert. Das ändert sich nun:

»Indem die Individuen beginnen, in gemeinschaftlicher Umweltverfügung ihre Lebensmittel und Lebensbedingungen selbst zu produzieren, ist hier die Existenzerhaltung der Einzelindividuen das bewußt angestrebte Ziel, das allerdings nur über Beiträge vom Einzelnen zur Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, das die je individuellen Lebensmittel und -bedingungen einschließt, erreicht werden kann.« (190)

Die »Existenzerhaltung der Einzelindividuen« als »das bewußt angetrebte Ziel« ist eine kategoriale und keine normative Aussage. Die Gesellschaft ist dazu ›da‹, damit die Einzelnen ihre Existenz sichern können — und nicht umgekehrt. Ob dies tatsächlich für alle Individuen der Fall ist, hat mit der je historisch-besonderen Verfasstheit der Gesellschaft zu tun. Historisch wurde es bisher nicht für alle Menschen gewährleistet. Potenziell gilt die Aussage gleichwohl »im Prinzip« (193) für alle Menschen, womit der Raum menschlicher Möglichkeiten abgesteckt wird: Eine Gesellschaft, in der tatsächlich alle Menschen ihre Existenz nach dem jeweils erreichten Stand der Befriedigungsmöglichkeiten der Bedürfnisse würdig erhalten können, ist realisierbar.

Damit ist angedeutet, dass auf dem neuen Entwicklungsniveau das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum nicht mehr selbstevident, sondern problematisch ist. Um die jeweilige Problematik fassen zu können, muss ein neuer Interpretationsrahmen geschaffen werden. Dieser hat folgende Elemente:

  1. Der »gesellschaftliche Mensch-Welt-Zusammenhang (ist) in den jeweils relevanten Momenten als objektiv-materielles Verhältnis gesellschaftstheoretisch« (192) zu erfassen.
  2. Von dort aus sind die veränderten »psychischen Funktionsaspekte individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeit« zu analysieren, wie sie »sich aus dem objektiven Verhältnis Individuum/gesellschaftlich-historischer Gesamtprozeß« (ebd.) ergeben.

Abb. 24: Dualistischer und dialektischer Begriff des Mensch-Gesellschaft-Verhältnisses (Klicken zum Vergrößern).

Da nun die produzierten Lebensbedingungen im Prinzip allen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung stehen, ist die Unmittelbarkeit des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher Produktion und individueller Nutzung durchbrochen. Mit der Unmittelbarkeitsdurchbrechung wird die neue Qualität des Mensch-Welt-Zusammenhangs als gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz erreicht. Die Kategorien, die den Zusammenhang zwischen gesellschaftlich-objektiven und den individuell-psychischen Bestimmungen des Mensch-Welt-Verhältnisses abbilden können, werden Vermittlungsbegriffe bzw. -kategorien genannt.

Daraus folgt eine Kritik an den Vorbegriffen der traditionellen Psychologie. Da im traditionell-psychologischen Herangehen die Welt nicht als von Menschen hergestellt und veränderbar begriffen wird, kann auch die personale Lebensführung nur als unvermittelte Aktivität in einer unmittelbar gegebenen, quasi natürlichen Umwelt aufgefasst werden: Da »die menschlich-gesellschaftliche Lebensgewinnungsform hier auf vormenschlich-organismische Weisen der Lebenserhaltung … herunterbegebracht« (194f) sei, bleibe

»… radikal unverständlich, wie Menschen mit so beschränkten Fähigkeiten, Bedürfnissen etc. in der Lage und bereit sein können, durch individuelle Beiträge zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenzsicherung mitzuschaffen, also aktiv zu werden, ohne daß die dabei angestrebten Resultate in unmittelbarem Zusammenhang mit ihren je aktuellen Lebensnotwendigkeiten und Bedürftigkeiten stehen.« (194)

Folglich wird auch das Mensch-Welt-Verhältnis nicht als umfassendes und unhintergehbares Vermittlungsverhältnis begriffen, sondern vom gesellschaftlichen Zusammenhang isolierte individuelle Menschen stehen dem abstrakten Systemgesamt ›Gesellschaft‹ unvermittelt und damit äußerlich gegenüber (vgl. Abb. 24). Das Problem einer solchen dualistischen Mensch-Welt-Sicht wird nicht dadurch ermäßigt, indem die ›Gesellschaft‹ als ›Faktor‹ einbezogen wird und insofern immerhin ›vorkommt‹, sondern durch die erneute äußerliche Gegenüberstellung reproduziert. Dies ist sogar auf Grundlage kritisch-psychologischer Termini möglich.

Die Herausforderung eines dialektischen Begriffs des Mensch-Welt-Vermittlungsverhältnisses besteht im Denken der inneren Einheit von gesellschaftlichem Menschen und menschlicher Gesellschaft: Die gesellschaftlichen Menschen sind gleichzeitig die menschliche Gesellschaft, vermittels derer sie leben, indem sie ihre Lebensbedingungen und damit sich selbst herstellen. Die Gesellschaftlichkeit ist somit Ausgangspunkt und Ergebnis des gleichen Prozesses. Die Aufgabe der kritisch-psychologischen Vermittlungsbegriffe ist es nun, diesen inneren Zusammenhang in Hinsicht auf die psychischen Dimensionen begreifbar zu machen. Dies ist nur dann zu leisten, wenn keine der vermittelten Seiten im Zuge der Konkretisierung der analytischen Begriffe ›unter den Tisch fällt‹.

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