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13.1 Entwicklungszüge zum handlungsfähigen Individuum

Abb. 29: Rekonstruktion (absteigende graue Pfeile) und Realprozess (aufsteigende weisse Pfeile) der Entwicklungszüge der Individualentwicklung mit Bezug auf die phylogenetische Herausbildung der gesellschaftlichen Natur (Klicken zum Vergrößern)

Wie kann die Ontogenese, der Prozess der individuellen Entfaltung der gesellschaftlichen Potenzen des Menschen, kategorial aufgeschlüsselt werden? Auch hier verwendet Holzkamp ein rekonstruktives Verfahren (vgl. Abb. 29). Ausgehend von der entfalteten Handlungsfähigkeit fragt er ›rückwärts‹, welche Entwicklungen logisch jeweils vorher vollzogen sein müssen, um den anstehenden qualitativen Entwicklungsschritt zu ermöglichen (absteigende graue Pfeile). Die so herausgehobenen Entwicklungszüge dienen dann methodisch gewendet als Rahmen für die ›aufsteigende‹ Kategorialanalyse (aufsteigende weisse Pfeile).

Die ontogenetische Prozessfolge entspricht der phylogenetischen Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen (punktierte Linien in Abb. 29). Das ist jedoch nicht so zu verstehen, dass hier die Phylogenese noch einmal individuell durchlaufen wird. Dies schon deswegen nicht, weil die genomische Ausstattung alle Potenzen zur individuellen Vergesellschaftung bereits enthält, die sich phylogenetisch erst herausbilden mussten.

Die Individualentwicklung ist stattdessen als schrittweiser Realisations- und Aneignungsprozess der die gesellschaftliche Natur des Menschen umfassenden Potenzen zu begreifen. Dazu gehören zwei wesentliche qualitative Übergänge:

  1. die Überschreitung der bloß naturhaften Umwelt im Entwicklungszug der Bedeutungsverallgemeinerung, die damit die kooperativen Potenzen der Kumulation von Mitteln, Mittelbedeutungen und Denkformen nach der Zweck-Mittel-Umkehrung realisiert (vgl. Kap. 6.1);
  2. der Entwicklungszug der Unmittelbarkeitsüberschreitung von der bloß personalen Kooperation zur entfalteten Handlungsfähigkeit, der die Potenzen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz realisiert (vgl. Kap. 8.2).

In der GdP wird zu diesen beiden Entwicklungszügen noch die »Handlungsfähigkeitsreproduktion« (423) hinzugefügt, also die Erhaltung oder Erweiterung der Handlungsfähigkeit des erwachsenen Individuums. Da sich dieser Prozesstyp jedoch auf die Handlungsfähigkeit selbst bezieht und keinen Übergangscharakter besitzt, wird er in den weiteren Ausführungen in der GdP nicht als eigener Entwicklungszug behandelt.

Die schematisierte und damit vereinfachende Darstellung im Schaubild von Abb. 29 könnte eine klar abgetrennte Stufenfolge suggerieren. Holzkamp betont, dass außer einer logischen Reihenfolge keine Festlegung über den realen Entwicklungsprozess eines Individuums gemacht werden könne — weder in Bezug auf eine Zuweisung der Entwicklungszüge zu einem Lebensalter, noch zur realen Getrenntheit der Entwicklungszüge voneinander. Holzkamp hebt hervor:

»Man muß … zwischen dem ersten Auftreten einer neuen Funktion (Funktionswechsel) und ihrer Durchsetzung gegenüber der früheren Funktion (Dominanzwechsel) unterscheiden. Demnach können z.B. innerhalb des Entwicklungszugs der Bedeutungsverallgemeinerung – nach Maßgabe der Entfaltung der dazu nötigen Voraussetzungen – bereits Vorformen der Unmittelbarkeitsüberschreitung auftreten, die aber erst, wenn die Bedeutungsverallgemeinerung ein entsprechendes Niveau erreicht hat, dominant zu werden vermögen. Entsprechendes gilt für Vorformen der Handlungsfähigkeitsreproduktion innerhalb des Entwicklungszugs der Unmittelbarkeitsüberschreitung…« (424)

Auch hier wird also wieder der aus der Rekonstruktion der Psycho-Phylogenese bekannte methodische Fünfschritt (vgl. Kap. 1.3) verwendet, ohne allerdings die fünf Schritte detailliert auszuführen.

Die Individualentwicklung ist keine abstrakte Hineinentwicklung in gesellschaftliche Verhältnisse als solche, sondern es ist klar, dass sich

»das Individuum von seinem ersten Lebenslage an objektiv unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, also etwa auch formationsspezifischen Unterdrückungsverhältnissen als bürgerliche Klassenrealität … entwickelt« (427)

Die entsprechenden durch Lebenslage und Position vermittelten Herrschaftsverhältnisse sind je nach Entwicklungsstand »in für das Subjekt unterschiedlich verallgemeinerbarer und ›vermittelbarer‹ Weise wirksam«(ebd.), was sich in der Kategorialanalyse niederschlägt.

Dabei werden auch die Grenzen dieses Vorgehens deutlich: Von konkreten Personen, sowohl bestimmten Erwachsenen wie anderen Kindern, und strukturellen Besonderheiten und Institutionen wird abstrahiert, da konkrete Situationen nur in aktualempirischen Untersuchungen aufgeklärt werden können. Stattdessen steht allgemein die Kind-Erwachsenen-Koordination im Zentrum der Analysen. Es geht bei der Ontogenese um die »Reziprozität der Beziehung des Kindes zum Erwachsenen und des Erwachsenen zum Kinde«, was bedeutet, die »Koordinations-Entwicklung sowohl vom Standpunkt des Kindes wie vom Standpunkt des Erwachsenen aus«(438) zu untersuchen.

Trotz der Absehung von konkreten Personen werden aus Veranschaulichungsgründen immer wieder Illustrationen angeführt, die aber — wie Holzkamp betont — unverbindlichen Charakter haben. Ähnlich wie schon bei der Kategorialanalyse der psychischen Dimensionen unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung (vgl. Kap. 12.6, 12.7, 12.8) bewegen wir uns hier in einer »Grauzone zwischen Kategorialanalyse und einzeltheoretischer Hypothesenbildung« (428).

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